"Ein gerüttelt Maß an Basiswut"
Das Votum für Andrea Nahles als SPD-Generalsekretärin ist nicht nur Ausdruck eines Generationenkonflikts, meint der Journalist Norbert Seitz. Darin drücke sich auch die Wut der Basis über das autokratische Verhalten der Parteispitze aus. Seitz ist Redakteur bei der politischen Kulturzeitschrift "Frankfurter Hefte".
Wuttke: Die Wogen werden selbst bei Platzecks Wahl nicht geglättet sein, weder was die Koalitionsverhandlungen angeht noch den Zustand der SPD. Der Publizist Norbert Seitz kennt das Innenleben der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sehr genau. Herr Seitz, wie groß ist die Lust der SPD am Untergang?
Seitz: Ja, die ist manchmal sehr groß, vor allen Dingen wenn sie sich auf den Parteivorsitzenden richtet. Man könnte fast von einer periodisch auftretenden Lust am Untergang sprechen.
Wuttke: Inwiefern?
Seitz: Wir haben zum Beispiel, wenn Sie daran denken, 1987 schon mal ein Präsidium, praktisch einen großen Bundesvorsitzenden, damals war das Willy Brandt, in der Parteisprecherinnenaffäre um Margarita Mathiopoulus zum Rücktritt gezwungen. Wir haben genau vor zehn Jahren in Mannheim den Parteitagsputsch gegen einen Vorsitzenden namens Rudolf Scharping erlebt, wo hinterher die Parteitagsdelegierten vor Begeisterung darüber, dass sie einen Chef losgeworden sind, den sie zwei Jahre zuvor noch bei einer Basiswahl bestellt hatten, den Nachhauseweg im Gänsemarsch angetreten haben, und nun haben wir eine natürlich verschärfte Situation, weil die SPD sich ja in Koalitionsverhandlungen befindet und man durch diesen Beschluss ja in gewisser Weise dem Vorsitzenden Müntefering die Autorität entzogen hat.
Wuttke: Warum aber dann jetzt diese Krokodilstränen nach dem Motto, hätten wir geahnt, dann hätten wir nicht?
Seitz: Ja, also das halte ich für total scheinheilig. Das ist die Scheinheiligkeit von linken Gutmenschen, wenn Sie mir die spitze Bemerkung gestatten.
Wuttke: Gutmenschen in doppelten Anführungszeichen?
Seitz: In doppelten Anführungszeichen, die hinterher weinen bei dem, was sie vorher angerichtet haben, obwohl sie eigentlich die Folgen ihres Tuns hätten bedenken müssen. Es war eigentlich von vorne herein klar, dass ein Parteichef, der das Vorschlagsrecht hat, sich nicht durch irgendeinen Vorstandsbeschluss oder Präsidiumsbeschluss eine Kandidatin als Generalsekretärin vor die Nase setzen lässt, mit der er aus guten Gründen, würde ich sagen, nicht zusammenarbeiten kann, deshalb aus guten Gründen, weil sie ja im Grunde genommen ein Kontrastprogramm zur jetzt zu bildenden großen Koalition angekündigt hat. Das kann ja eigentlich nicht gut gehen.
Wuttke: Die ersten personellen Konsequenzen zog gestern Heidi Wieczorek-Zeul. Sie verzichtete schweren Herzens auf das Amt der stellvertretenden Parteichefin. Wie groß ist die Macht dieser roten Eminenz?
Seitz: Die Macht ist schon ganz schön groß. Sie müssen immerhin wissen, sie hat immer den Nimbus gehab der Rebellin, die einst im charismatischen Umfeld von Willy Brandt Jusovorsitzende gewesen ist. Wenn Sie sich die alten Bilder der Jusoversammlungen anschauen, das sind reine Männerversammlungen mit Leuten, die lange Bärte und hässliche Hornbrillen haben, und dazwischen gab es immer diese Lichtgestalt namens Heidi Wieczorek-Zeul. Es ist ja auch, wenn Sie sich mal die letzten zwei Jahrzehnte genau anschauen, kaum eine führende Jungsozialistin gewesen, die wirklich groß Bundeskarriere gemacht hat, mit Ausnahme vielleicht von Doris Ahnen in Rheinland-Pfalz, die eine tüchtige Kultusministerin ist. Insofern ist auch Andrea Nahles die legitime Nachfolgerin von ihr. Sie ist das Küken, das ideologische Küken, und auch von der ganzen Attitüde her, dieser "Hoppla, jetzt komm ich"-Attitüde her, ist sie die Nachfolgerin. Sie ist in gewisser Weise natürlich auch bei dieser Wahl am Montag das Instrument von ihr gewesen.
Wuttke: Also Heidi Wieczorek-Zeul, eine Frau mit Biss?
Seitz: Das kann man sehr gut sagen, vor allen Dingen wie sie ihr Revier in Hessen-Süd immer bestellt hat, da hat sie darauf geachtet, dass es keine Prinzesschen um sie herum gibt, die allemal an die Macht wollen, das haben einige Frauen zu spüren bekommen. Das heißt, sie war immer diejenige, die die Oberhand behalten wollte, und wenn ich vorhin sage, sie ist im Umfeld Willy Brandts großgeworden, dann muss man sagen, so wie sie ihre Partei bestellt hat, erinnerte das eher an Helmut Kohl.
Wuttke: Inwiefern?
Seitz: Na gut, sie hat halt immer darauf geachtet, etwa auch beim Nachwuchs, dass der nach dem Kriterium der Beherrschbarkeit aussortiert wurde, wenn Sie so wollen, und sie hat auch immer auch heute noch, wo sie eigentlich keine Vorsitzende mehr ist, hat man schon den Eindruck, dass die rote Heidi immer noch den Laden in Südhessen im Griff hat, dass sie zwar einerseits die Agenda im Kabinett mitgemacht hat, aber andererseits der Bezirk Hessen-Süd eigentlich die größten Rebellen gegen die Agenda-Politik gewesen sind.
Wuttke: Wollen Sie damit sagen, Andrea Nahles ist für Heidi Wieczorek-Zeul nicht viel mehr als eine Strohfrau?
Seitz: Nein, das ist sicher sehr übertrieben, aber es ist ja so, dass die Generationendebatte in der SPD tobt, und Frau Wieczorek-Zeul hat gesagt, wer mir die Generationsfrage stellt, muss bei sich selber anfangen, denn Franz Müntefering ist ja noch zwei Jahre älter als sie, sie wird 63, er ist 65. Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass bei dem Sturz von Müntefering ihr das gelungen ist, was dem Gerhard Schröder bei der Angela Merkel nicht gelungen ist, nämlich zu sagen, also wenn ich schon gehen muss, dann musst du auch mitgehen, aber bitteschön vor mir. Das ist Schröder nicht gelungen bei Frau Merkel, das ist aber Frau Wieczorek-Zeul bei Müntefering gelungen.
Wuttke: Zwei Sachen kristallisieren sich für mich heraus aus dem, was Sie gerade geschildert haben: Zum einen, dass diese Partei eben einen sehr autoritären Stil pflegt, in der die Sitze gut verteilt sind, und wer erst mal sitzt, der bleibt da auch sitzen. Zum anderen, dass immer dann die Generationenfrage bemüht wird, wenn man sich in einer politischen Sackgasse befindet. Wo bitteschön ist denn tatsächlich ein Wechsel sichtbar? Hat Frau Nahles da eine Tür aufgeschlagen? Wo sind die Jungen, wo ist das Neue?
Seitz: Es ist so, dass es natürlich im Schatten der Enkel, also die so genannte "Enkelgeneration" der alten Jusos, die alle was geworden sind, die entweder Ministerpräsident geworden sind, oder wie Schröder Bundeskanzler oder wie Scharping Verteidigungsminister, dass es die nächste Generation da sehr sehr schwer hatte sich zu entwickeln, und darunter leidet die SPD heute so ein bisschen. Es gibt zwar die Netzwerke, da gibt es auch viele Talente, aber auch Leute, die noch lange nicht so weit sind, wenn Sie an Sigmar Gabriel zum Beispiel denken oder an Ute Vogt, das sind Talente, aber die brauchen noch eine ganze Zeit. Frau Nahles hat sicher eine Tür aufgestoßen, das muss man schon sagen, auch wenn die Generationendebatte, so wie sie am Montag geführt und ausagiert wurde, wenn Sie so wollen, natürlich sehr scheinheilig war, weil sie, wie gesagt, bei der Person der stellvertretenden Parteivorsitzenden Halt gemacht hat.
Wuttke: Es bräuchte also eine Rundumerneuerung, auch was die Hierarchien anbelangt?
Seitz: Ja, natürlich. Es ist schon so, dass sich in dem Votum vom Montag halt nicht nur eine Generationenattitüde ausdrückt, sondern auch ein gerüttelt Maß an Basiswut über autokratisches Benehmen der Parteispitze, denken Sie, vom einsamen Neuwahlentschluss Schröders und Münteferings nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl bis hin zu wildesten Spekulationen in der letzten Zeit über strategische Besatzungsänderungen, dass man da irgendwie fünf stellvertretende Parteivorsitzende auf drei reduzieren wollte, weil man zwei Leute loswerden wollte beziehungsweise dass man halt den Generalsekretär abschaffen wollte. Das sickerte so alles durch, und da fühlte sich die Partei übergangen. Die SPD ist halt, freundlich ausgedrückt, eine sehr partizipatorische, unfreundlich ausgedrückt, eine sehr verschwätzte Partei.
Wuttke: Das ist sehr freundlich gesagt.
Seitz: Eine sehr verschwätzte Partei, wo immer viel in Gremien geredet werden muss und es lange Zeit braucht, bevor etwas entschieden ist. Das heißt, man guckt sich dann so ein autokratisches Gebaren eine Zeit lang an und dann passiert das, was am Montag passiert ist.
Wuttke: Aber was will die Linke in der SPD? Offensichtlich hat sie sich erst mal verschätzt, sich selbst überschätzt - und wohin will sie?
Seitz: Na ja, sie guckt sich halt das Wahlergebnis nur arithmetisch an und sagt, arithmetisch ist Rot-Rot-Grün, haben die eine Mehrheit von 51 Prozent, und sie ärgern sich schon ein bisschen darüber, dass eigentlich das als Faustpfand sozusagen in die Koalitionsverhandlungen der CDU nicht mit eingebracht wurde, so dass man praktisch die Christdemokraten hätte in gewisser Weise auch mit dieser Alternative erpressen können. Das funktioniert nicht, das funktioniert deshalb nicht, weil die Sozialdemokratie in ihrer Mehrheit niemals ein Linksbündnis, auch nicht jenseits von Lafontaine, das möchte ich hinzufügen, machen könnte. Das würde der bisher geleisteten Politik von Gerhard Schröder total widersprechen. Außerdem finde ich schon erstaunlich, wie man über die Grünen verfügt. Ich kenne keine Äußerung eines grünen Spitzenpolitikers, vielleicht mit Ausnahme von Außenseiter Ströbele, die sich für eine rot-rot-grüne Koalition erwärmen könnten.
Wuttke: Matthias Platzeck soll nun neuer Parteivorsitzender werden. Hat mit ihm die SPD-Führung wirklich verstanden, was passiert ist?
Seitz: Ja, ich halte die Entscheidung eigentlich für sehr gut für die SPD. Er ist ja auch eher ein Außenseiter. Er hat ja die Ochsentour in der Partei gar nicht hinter sich. Er ist sozusagen das männliche Pendant der Angela Merkel in der CDU. Beide haben etliche Gemeinsamkeiten, nicht nur weil sie aus dem protestantischen Milieu kommen.
Wuttke: Auch weil sie aus dem Osten kommen.
Seitz: Aus dem Osten kommen, fast gleichaltrig sind, der eine Jahrgang 53, sie Jahrgang 54. Das könnte man auch als ein Stück gelungene Wiedervereinigung bezeichnen. Nein, ich denke, dass in dieser Hinsicht es eine gute Entscheidung ist, weil er im Grunde genommen nicht in den alten Seilschaften der SPD drinhängt und Ochsentouren hinter sich hat, die normalerweise Politiker haben müssen, wenn sie solche Ämter erklimmen.
Wuttke: Vielen Dank für das Gespräch!
Seitz: Ja, die ist manchmal sehr groß, vor allen Dingen wenn sie sich auf den Parteivorsitzenden richtet. Man könnte fast von einer periodisch auftretenden Lust am Untergang sprechen.
Wuttke: Inwiefern?
Seitz: Wir haben zum Beispiel, wenn Sie daran denken, 1987 schon mal ein Präsidium, praktisch einen großen Bundesvorsitzenden, damals war das Willy Brandt, in der Parteisprecherinnenaffäre um Margarita Mathiopoulus zum Rücktritt gezwungen. Wir haben genau vor zehn Jahren in Mannheim den Parteitagsputsch gegen einen Vorsitzenden namens Rudolf Scharping erlebt, wo hinterher die Parteitagsdelegierten vor Begeisterung darüber, dass sie einen Chef losgeworden sind, den sie zwei Jahre zuvor noch bei einer Basiswahl bestellt hatten, den Nachhauseweg im Gänsemarsch angetreten haben, und nun haben wir eine natürlich verschärfte Situation, weil die SPD sich ja in Koalitionsverhandlungen befindet und man durch diesen Beschluss ja in gewisser Weise dem Vorsitzenden Müntefering die Autorität entzogen hat.
Wuttke: Warum aber dann jetzt diese Krokodilstränen nach dem Motto, hätten wir geahnt, dann hätten wir nicht?
Seitz: Ja, also das halte ich für total scheinheilig. Das ist die Scheinheiligkeit von linken Gutmenschen, wenn Sie mir die spitze Bemerkung gestatten.
Wuttke: Gutmenschen in doppelten Anführungszeichen?
Seitz: In doppelten Anführungszeichen, die hinterher weinen bei dem, was sie vorher angerichtet haben, obwohl sie eigentlich die Folgen ihres Tuns hätten bedenken müssen. Es war eigentlich von vorne herein klar, dass ein Parteichef, der das Vorschlagsrecht hat, sich nicht durch irgendeinen Vorstandsbeschluss oder Präsidiumsbeschluss eine Kandidatin als Generalsekretärin vor die Nase setzen lässt, mit der er aus guten Gründen, würde ich sagen, nicht zusammenarbeiten kann, deshalb aus guten Gründen, weil sie ja im Grunde genommen ein Kontrastprogramm zur jetzt zu bildenden großen Koalition angekündigt hat. Das kann ja eigentlich nicht gut gehen.
Wuttke: Die ersten personellen Konsequenzen zog gestern Heidi Wieczorek-Zeul. Sie verzichtete schweren Herzens auf das Amt der stellvertretenden Parteichefin. Wie groß ist die Macht dieser roten Eminenz?
Seitz: Die Macht ist schon ganz schön groß. Sie müssen immerhin wissen, sie hat immer den Nimbus gehab der Rebellin, die einst im charismatischen Umfeld von Willy Brandt Jusovorsitzende gewesen ist. Wenn Sie sich die alten Bilder der Jusoversammlungen anschauen, das sind reine Männerversammlungen mit Leuten, die lange Bärte und hässliche Hornbrillen haben, und dazwischen gab es immer diese Lichtgestalt namens Heidi Wieczorek-Zeul. Es ist ja auch, wenn Sie sich mal die letzten zwei Jahrzehnte genau anschauen, kaum eine führende Jungsozialistin gewesen, die wirklich groß Bundeskarriere gemacht hat, mit Ausnahme vielleicht von Doris Ahnen in Rheinland-Pfalz, die eine tüchtige Kultusministerin ist. Insofern ist auch Andrea Nahles die legitime Nachfolgerin von ihr. Sie ist das Küken, das ideologische Küken, und auch von der ganzen Attitüde her, dieser "Hoppla, jetzt komm ich"-Attitüde her, ist sie die Nachfolgerin. Sie ist in gewisser Weise natürlich auch bei dieser Wahl am Montag das Instrument von ihr gewesen.
Wuttke: Also Heidi Wieczorek-Zeul, eine Frau mit Biss?
Seitz: Das kann man sehr gut sagen, vor allen Dingen wie sie ihr Revier in Hessen-Süd immer bestellt hat, da hat sie darauf geachtet, dass es keine Prinzesschen um sie herum gibt, die allemal an die Macht wollen, das haben einige Frauen zu spüren bekommen. Das heißt, sie war immer diejenige, die die Oberhand behalten wollte, und wenn ich vorhin sage, sie ist im Umfeld Willy Brandts großgeworden, dann muss man sagen, so wie sie ihre Partei bestellt hat, erinnerte das eher an Helmut Kohl.
Wuttke: Inwiefern?
Seitz: Na gut, sie hat halt immer darauf geachtet, etwa auch beim Nachwuchs, dass der nach dem Kriterium der Beherrschbarkeit aussortiert wurde, wenn Sie so wollen, und sie hat auch immer auch heute noch, wo sie eigentlich keine Vorsitzende mehr ist, hat man schon den Eindruck, dass die rote Heidi immer noch den Laden in Südhessen im Griff hat, dass sie zwar einerseits die Agenda im Kabinett mitgemacht hat, aber andererseits der Bezirk Hessen-Süd eigentlich die größten Rebellen gegen die Agenda-Politik gewesen sind.
Wuttke: Wollen Sie damit sagen, Andrea Nahles ist für Heidi Wieczorek-Zeul nicht viel mehr als eine Strohfrau?
Seitz: Nein, das ist sicher sehr übertrieben, aber es ist ja so, dass die Generationendebatte in der SPD tobt, und Frau Wieczorek-Zeul hat gesagt, wer mir die Generationsfrage stellt, muss bei sich selber anfangen, denn Franz Müntefering ist ja noch zwei Jahre älter als sie, sie wird 63, er ist 65. Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass bei dem Sturz von Müntefering ihr das gelungen ist, was dem Gerhard Schröder bei der Angela Merkel nicht gelungen ist, nämlich zu sagen, also wenn ich schon gehen muss, dann musst du auch mitgehen, aber bitteschön vor mir. Das ist Schröder nicht gelungen bei Frau Merkel, das ist aber Frau Wieczorek-Zeul bei Müntefering gelungen.
Wuttke: Zwei Sachen kristallisieren sich für mich heraus aus dem, was Sie gerade geschildert haben: Zum einen, dass diese Partei eben einen sehr autoritären Stil pflegt, in der die Sitze gut verteilt sind, und wer erst mal sitzt, der bleibt da auch sitzen. Zum anderen, dass immer dann die Generationenfrage bemüht wird, wenn man sich in einer politischen Sackgasse befindet. Wo bitteschön ist denn tatsächlich ein Wechsel sichtbar? Hat Frau Nahles da eine Tür aufgeschlagen? Wo sind die Jungen, wo ist das Neue?
Seitz: Es ist so, dass es natürlich im Schatten der Enkel, also die so genannte "Enkelgeneration" der alten Jusos, die alle was geworden sind, die entweder Ministerpräsident geworden sind, oder wie Schröder Bundeskanzler oder wie Scharping Verteidigungsminister, dass es die nächste Generation da sehr sehr schwer hatte sich zu entwickeln, und darunter leidet die SPD heute so ein bisschen. Es gibt zwar die Netzwerke, da gibt es auch viele Talente, aber auch Leute, die noch lange nicht so weit sind, wenn Sie an Sigmar Gabriel zum Beispiel denken oder an Ute Vogt, das sind Talente, aber die brauchen noch eine ganze Zeit. Frau Nahles hat sicher eine Tür aufgestoßen, das muss man schon sagen, auch wenn die Generationendebatte, so wie sie am Montag geführt und ausagiert wurde, wenn Sie so wollen, natürlich sehr scheinheilig war, weil sie, wie gesagt, bei der Person der stellvertretenden Parteivorsitzenden Halt gemacht hat.
Wuttke: Es bräuchte also eine Rundumerneuerung, auch was die Hierarchien anbelangt?
Seitz: Ja, natürlich. Es ist schon so, dass sich in dem Votum vom Montag halt nicht nur eine Generationenattitüde ausdrückt, sondern auch ein gerüttelt Maß an Basiswut über autokratisches Benehmen der Parteispitze, denken Sie, vom einsamen Neuwahlentschluss Schröders und Münteferings nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl bis hin zu wildesten Spekulationen in der letzten Zeit über strategische Besatzungsänderungen, dass man da irgendwie fünf stellvertretende Parteivorsitzende auf drei reduzieren wollte, weil man zwei Leute loswerden wollte beziehungsweise dass man halt den Generalsekretär abschaffen wollte. Das sickerte so alles durch, und da fühlte sich die Partei übergangen. Die SPD ist halt, freundlich ausgedrückt, eine sehr partizipatorische, unfreundlich ausgedrückt, eine sehr verschwätzte Partei.
Wuttke: Das ist sehr freundlich gesagt.
Seitz: Eine sehr verschwätzte Partei, wo immer viel in Gremien geredet werden muss und es lange Zeit braucht, bevor etwas entschieden ist. Das heißt, man guckt sich dann so ein autokratisches Gebaren eine Zeit lang an und dann passiert das, was am Montag passiert ist.
Wuttke: Aber was will die Linke in der SPD? Offensichtlich hat sie sich erst mal verschätzt, sich selbst überschätzt - und wohin will sie?
Seitz: Na ja, sie guckt sich halt das Wahlergebnis nur arithmetisch an und sagt, arithmetisch ist Rot-Rot-Grün, haben die eine Mehrheit von 51 Prozent, und sie ärgern sich schon ein bisschen darüber, dass eigentlich das als Faustpfand sozusagen in die Koalitionsverhandlungen der CDU nicht mit eingebracht wurde, so dass man praktisch die Christdemokraten hätte in gewisser Weise auch mit dieser Alternative erpressen können. Das funktioniert nicht, das funktioniert deshalb nicht, weil die Sozialdemokratie in ihrer Mehrheit niemals ein Linksbündnis, auch nicht jenseits von Lafontaine, das möchte ich hinzufügen, machen könnte. Das würde der bisher geleisteten Politik von Gerhard Schröder total widersprechen. Außerdem finde ich schon erstaunlich, wie man über die Grünen verfügt. Ich kenne keine Äußerung eines grünen Spitzenpolitikers, vielleicht mit Ausnahme von Außenseiter Ströbele, die sich für eine rot-rot-grüne Koalition erwärmen könnten.
Wuttke: Matthias Platzeck soll nun neuer Parteivorsitzender werden. Hat mit ihm die SPD-Führung wirklich verstanden, was passiert ist?
Seitz: Ja, ich halte die Entscheidung eigentlich für sehr gut für die SPD. Er ist ja auch eher ein Außenseiter. Er hat ja die Ochsentour in der Partei gar nicht hinter sich. Er ist sozusagen das männliche Pendant der Angela Merkel in der CDU. Beide haben etliche Gemeinsamkeiten, nicht nur weil sie aus dem protestantischen Milieu kommen.
Wuttke: Auch weil sie aus dem Osten kommen.
Seitz: Aus dem Osten kommen, fast gleichaltrig sind, der eine Jahrgang 53, sie Jahrgang 54. Das könnte man auch als ein Stück gelungene Wiedervereinigung bezeichnen. Nein, ich denke, dass in dieser Hinsicht es eine gute Entscheidung ist, weil er im Grunde genommen nicht in den alten Seilschaften der SPD drinhängt und Ochsentouren hinter sich hat, die normalerweise Politiker haben müssen, wenn sie solche Ämter erklimmen.
Wuttke: Vielen Dank für das Gespräch!