Ein Gefühl wie ein Crescendo

25.05.2011
Der psychoanalytische Theoretiker Daniel Stern zeigt in seinem Buch, wie sehr psychisches Erleben in der Gestik oder der Stimmmelodie eines Menschen zum Ausdruck kommt. In der Psychotherapie könne die Art und Weise, wie jemand etwas erzähle, wichtiger sein als der Inhalt selbst, ist er überzeugt.
Freud sprach von Trieben, Jung von der Energetik der Seele. Die großen Denker am Beginn der Psychoanalyse stellten die Frage, welche inneren Kräfte den Menschen bewegen? "Was ist das Leben?”, lautete die zentrale Frage der Lebensphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der psychoanalytische Dissident Wilhelm Reich schrieb, dass ihn zeitlebens nur diese eine Frage umtrieb. Nun widmet sich auch der große psychoanalytische Theoretiker Daniel Stern in seinem neuen Buch den "Ausdrucksformen der Vitalität”, einem trotz allem in der Wissenschaft "wenig beachteten Aspekt des menschlichen Erlebens”.

Schon vor 25 Jahren hatte Stern in seinem Meisterwerk "Die Lebenserfahrung des Säuglings” Grundzüge einer "Theorie der Vitalitätsformen" entworfen. Mit Vitalitätsformen meint er, dass es neben Gedanken und Emotionen eine weitere Qualität menschlichen Erlebens gibt: Wir erleben zum Beispiel einen Gedanken, als würde er sich langsam entfalten oder unverhofft entstehen, ein Gefühl, als würde es allmählich anschwellen oder einen plötzlich packen. Gedanken, Gefühle, Stimmungen können flüchtig, pulsierend, gleitend, schwingend, aufwallend, angespannt oder zögerlich sein. In einer Bewegung wiederum können wir uns kräftig und schnell oder träge und schwach fühlen.

Solche Qualitäten sind nach Stern die dynamischen Formen, in denen sich seelische Inhalte transportieren und die wir in unserem Erleben als das Wie des Erlebens von seinem Was trennen können. Sie sind geprägt durch Bewegung, Zeit, Kraft, Raum und Intention und zeigen, wie etwas zum Beispiel hinsichtlich der Zeit oder der Intensität erlebt wird.

Stern bemüht die Künste, um seinen Gedanken zu illustrieren. In der Musik kennt man das Andante oder das Allegro, ein Crescendo oder Decrescendo. Die damit gemeinte Dynamik lässt sich mühelos in einen Tanz oder in die Bilder eines Films übersetzen, weil die Künste bestrebt seien, die "Vitalität menschlicher Bewegungen” auszudrücken.

Mütter stimmen sich auf Säuglinge ein, indem sie sich in ihr vitales Erleben einschwingen, in ihre Erregung wie ihre Ruhe. Auch in der Psychotherapie, schreibt Stern, erfahre man mehr über den Patienten, wenn man beachte, in welcher Vitalitätsform er etwas zur Sprache bringt. Eine gleichbleibende Heftigkeit etwa verrate manchmal mehr über die Seele als das, was er erzählt.

Neu ist das nicht. Manche Richtungen der Psychotherapie rücken das Erleben ins Zentrum der Behandlung. Aber es ist das Verdienst von Stern, dieses Thema auch in die Psychoanalyse zu tragen. Er tut dies allerdings auf eine etwas verhuschte Art. Sonst sehr gründlich, umgeht er in diesem Buch genaue Definitionen und widmet sich dem Thema eher essayistisch, als könne er sich nach reichem Forscherleben die Freiheit nehmen, seine psychoanalytischen Kollegen fast nebenbei auf etwas aufmerksam zu machen, das ihnen sonst entgeht: auf das lebendige Erleben ihrer Patienten, die mit Gesten oder der Melodie ihrer Stimme etwas zum Ausdruck bringen, über das sie vielleicht gar nicht sprechen.

Rezensensiert von Ulfried Geuter

Daniel N. Stern: Ausdrucksformen der Vitalität - Die Erforschung dynamischen Erlebens in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten
Übersetzt von Elisabeth Vorspohl
Brandes & Apsel, Frankfurt/Main 2010
224 Seiten, 24,90 Euro