Ein Frühling hätte es werden sollen
Ein Frühling hätte es werden sollen zwischen der Türkei und Armenien. Im letzten Jahr unterzeichneten beide Länder Protokolle, um die Beziehungen untereinander zu normalisieren. Die Grenzen sollten wieder geöffnet und Botschafter ausgetauscht werden. Doch dieser Prozess ist nun ins Stocken geraten.
Die gemeinsame Geschichte der Armenier und der Türken baut sich immer wieder als unüberbrückbare Barriere zwischen den beiden Völkern auf. Nach wie vor negieren die Türken den 1915 an den Armeniern verübten Völkermord. Die Türkei reagiert reflexartig scharf, wenn der Völkermord thematisiert und wie jüngst im US-Kongressausschuss beim Namen genannt wird. Seit Jahren gibt es einen internationalen Druck auf die Türkei, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, der jedoch weitgehend folgenlos bleibt.
Durch weltweite Appelle und Parlamentsbeschlüsse werden weder die Seelen der Menschen noch das Gewissen einer Nation erreicht. Dies aber geschieht inzwischen vor allem in der Literatur. So sind es vor allem Bücher, die in den letzten Jahren erschienen sind, Romane und Biografien, die auch in der Türkei eine Diskussion über die Vergangenheit in Gang gebracht haben.
In den Familiengeschichten und in Einzelschicksalen wird Geschichte aufbewahrt und wieder erfahrbar. Wenn diese Geschichten aus der Vergangenheit gekonnt erzählt werden, so erhalten sie ihre Realität, ihre Gegenwärtigkeit zurück, die in historischen Abhandlungen, in Resolutionen und Debattenbeiträgen in Zahlen und Fakten zu verschwinden droht. Leiden, das durch Flucht und Vertreibung entstanden ist kann durch Dokumente nur bedingt geteilt werden. Es versteckt sich in der Erbmasse, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das Vergessen ist nur ein Teil seiner Existenz.
Da ist zum Beispiel meine Urgroßmutter. Wenn die Kinder sie nicht verstehen sollten, sprach sie mit ihren Verwandten in einer fremden Sprache. Diese fremde Sprache war Georgisch. Die Familie meiner Mutter stammte aus der Schwarzmeerstadt Batumi. Sie war Ende des 19. Jahrhunderts vor russischer Besatzung ins Osmanische Reich geflohen.
Millionen Türken haben heute Vorfahren, die nicht innerhalb der Grenzen der heutigen Türkei geboren worden sind. Sie kamen aus dem Balkan, aus dem Kaukasus oder wurden auf der arabischen Halbinsel geboren. In ihren Ausweisen standen Beirut, Saloniki oder Skopje als Geburtsorte. In der Türkei sollen auch über eine halbe Million Menschen leben, deren Vorfahren Armenier waren. Während der Verfolgung der armenischen Bevölkerung im Jahre 1915 konvertierten ihre Vorfahren zum Islam, um ihr Leben zu retten, oder wurden als Waisenkinder von türkischen Familien adoptiert. Die Erinnerung an die armenische Herkunft und Identität wurde ausgelöscht.
Die meisten Familiengeschichten in der Türkei wurden zu anonymen Gräbern der Abstammung, als die türkische Republik gegründet wurde. Die Erinnerung an die Herkunft war tabuisiert. Die türkische Nation basierte auf dem Vergessen dessen, was einmal gewesen war. Wie aus dem Nichts entstand ein neuer Staat, und wie aus dem Nichts erschuf er sich eine Nation. Der Staatsgründer Mustafa Kemal wurde zum übermächtigen symbolischen Vater aller Türken. Da war für die leiblichen Väter und Mütter fast kein Platz mehr.
Wenn die Türkei sich heute wiederentdeckt, dann öffnet sie auch den Weg in die Geschichte. Nicht etwa Revanchismus gibt dem wiedererwachten Interesse der Türken für den Balkan, den Kaukasus und den Vorderen Orient Antrieb, sondern das Gefühl der Wurzellosigkeit. Sie suchen dort nach Verwandtem und werden fündig.
Die Türken wollen ihre Donau, die Armenier ihren Ararat wiederhaben. Es ist ihr gutes Recht. Mit Gebietsansprüchen und Korrekturen an Staatsgrenzen hat dieser Wunsch nichts zu tun, denn sein Territorium sind die Fotoalben mit alten, vergilbten Bildern, Briefe und bruchstückhafte Skizzen in unleserlicher Schrift. Ihre Entzifferung gibt jedem Einzelnen seine Identität wieder zurück, die allein von der Zugehörigkeit zur türkischen Nation nur unvollkommen beschrieben werden kann.
Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für "die tageszeitung" sowie für andere Zeitungen (u. a. "Berliner Zeitung", "Die Welt"). Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis.
Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. "Gefährliche Verwandtschaft", Roman. München (Babel) 1998. "Der Erotomane. Ein Findelbuch", München (Babel) 1999. "Atlas des tropischen Deutschland", Essays. Berlin (Babel) 1992, 1993. "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas", Essays. Berlin (Babel) 1994. "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation", München (Babel) 2001. "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch", Berlin (Babel) 2006.
Durch weltweite Appelle und Parlamentsbeschlüsse werden weder die Seelen der Menschen noch das Gewissen einer Nation erreicht. Dies aber geschieht inzwischen vor allem in der Literatur. So sind es vor allem Bücher, die in den letzten Jahren erschienen sind, Romane und Biografien, die auch in der Türkei eine Diskussion über die Vergangenheit in Gang gebracht haben.
In den Familiengeschichten und in Einzelschicksalen wird Geschichte aufbewahrt und wieder erfahrbar. Wenn diese Geschichten aus der Vergangenheit gekonnt erzählt werden, so erhalten sie ihre Realität, ihre Gegenwärtigkeit zurück, die in historischen Abhandlungen, in Resolutionen und Debattenbeiträgen in Zahlen und Fakten zu verschwinden droht. Leiden, das durch Flucht und Vertreibung entstanden ist kann durch Dokumente nur bedingt geteilt werden. Es versteckt sich in der Erbmasse, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das Vergessen ist nur ein Teil seiner Existenz.
Da ist zum Beispiel meine Urgroßmutter. Wenn die Kinder sie nicht verstehen sollten, sprach sie mit ihren Verwandten in einer fremden Sprache. Diese fremde Sprache war Georgisch. Die Familie meiner Mutter stammte aus der Schwarzmeerstadt Batumi. Sie war Ende des 19. Jahrhunderts vor russischer Besatzung ins Osmanische Reich geflohen.
Millionen Türken haben heute Vorfahren, die nicht innerhalb der Grenzen der heutigen Türkei geboren worden sind. Sie kamen aus dem Balkan, aus dem Kaukasus oder wurden auf der arabischen Halbinsel geboren. In ihren Ausweisen standen Beirut, Saloniki oder Skopje als Geburtsorte. In der Türkei sollen auch über eine halbe Million Menschen leben, deren Vorfahren Armenier waren. Während der Verfolgung der armenischen Bevölkerung im Jahre 1915 konvertierten ihre Vorfahren zum Islam, um ihr Leben zu retten, oder wurden als Waisenkinder von türkischen Familien adoptiert. Die Erinnerung an die armenische Herkunft und Identität wurde ausgelöscht.
Die meisten Familiengeschichten in der Türkei wurden zu anonymen Gräbern der Abstammung, als die türkische Republik gegründet wurde. Die Erinnerung an die Herkunft war tabuisiert. Die türkische Nation basierte auf dem Vergessen dessen, was einmal gewesen war. Wie aus dem Nichts entstand ein neuer Staat, und wie aus dem Nichts erschuf er sich eine Nation. Der Staatsgründer Mustafa Kemal wurde zum übermächtigen symbolischen Vater aller Türken. Da war für die leiblichen Väter und Mütter fast kein Platz mehr.
Wenn die Türkei sich heute wiederentdeckt, dann öffnet sie auch den Weg in die Geschichte. Nicht etwa Revanchismus gibt dem wiedererwachten Interesse der Türken für den Balkan, den Kaukasus und den Vorderen Orient Antrieb, sondern das Gefühl der Wurzellosigkeit. Sie suchen dort nach Verwandtem und werden fündig.
Die Türken wollen ihre Donau, die Armenier ihren Ararat wiederhaben. Es ist ihr gutes Recht. Mit Gebietsansprüchen und Korrekturen an Staatsgrenzen hat dieser Wunsch nichts zu tun, denn sein Territorium sind die Fotoalben mit alten, vergilbten Bildern, Briefe und bruchstückhafte Skizzen in unleserlicher Schrift. Ihre Entzifferung gibt jedem Einzelnen seine Identität wieder zurück, die allein von der Zugehörigkeit zur türkischen Nation nur unvollkommen beschrieben werden kann.
Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für "die tageszeitung" sowie für andere Zeitungen (u. a. "Berliner Zeitung", "Die Welt"). Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis.
Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. "Gefährliche Verwandtschaft", Roman. München (Babel) 1998. "Der Erotomane. Ein Findelbuch", München (Babel) 1999. "Atlas des tropischen Deutschland", Essays. Berlin (Babel) 1992, 1993. "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas", Essays. Berlin (Babel) 1994. "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation", München (Babel) 2001. "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch", Berlin (Babel) 2006.

Zafer Senocak, türkischer Schriftsteller© J&D Dagyeli Verlag