Ein Fernsehauftritt sagt mehr ...

Von Dieter Rulff |
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Gemäß dieser propagandistischen Überzeugung hat Mao Tsedongs jahrzehntelang erfolgreich die chinesischen Massen gelenkt. Man muss weißgott kein Maoist sein, um in diesen Worten eine zeitgemäße Wahrheit zu erkennen.
Der Bundeskanzler hat sie auf seine Weise in den Satz gekleidet, dass er mit Bild, BamS und Glotze regiere. Und die aktuellste Variante wird man womöglich am Montag erleben, wenn Außenminister Joschka Fischer vom Visa-Untersuchungsausschuss vernommen wird: Ein Fernsehauftritt sagt mehr als tausend Seiten Vernehmungsprotokolle.

Das ist die klammheimliche Hoffnung der Koalition. Und das ist die dunkle Befürchtung der Opposition. Deshalb mochte der CSU-Landesgruppenchef Michael Glos auch partout nicht einsehen, warum dem größten Schauspieler der Nation ein solcher Auftritt gewährt werden soll. Und aufs Schauspiel versteht sich Michael Glos, wie überhaupt die ganze Union. Haben nicht ihre Landesfürsten vor einiger Zeit im Bundesrat ein prächtiges Stück hingelegt, als über das Zuwanderungsgesetz abgestimmt wurde.

Es ist also nicht ausgemacht, in wessen Reihen die besseren Schauspieler sitzen. Wie überhaupt die Kritik am inszenatorischen Charakter der Politik, an ihrer bildhaften Verknappung und ihrer medialen Beschleunigung, selbst zu einem eigenen Fach avanciert ist. Es ist das ernste Fach des Mahners und Bedenkenträgers, das mit Vorliebe mit den Thierses und von Weizsäckers besetzt wird.

Jene jedoch, die noch tief in der politischen Praxis stecken, nicken bei solchen Mahnungen nur, und stellen sich im Alltagsbetrieb auf ihre Wirkungslosigkeit ein.

Die Zeiten, in denen sich Politiker darauf beschränken konnten, mit Augenmaß und Leidenschaft dicke Bretter zu bohren und daheim noch in Ruhe gelassen wurden, sind vorbei. Wo früher die Parteien und deren Milieus für die Bindung des Publikums sorgten, ist heute der ganze Mann und die ganze Frau gefordert. An der Person des Politikers entscheidet sich die Politik. Deshalb kann es eine Partei in Aufregung versetzen und eine Koalition in Schieflage bringen, wenn einer wie Joschka Fischer sich bei einer nahenden Krise außer Form zeigt.

Die wachsende Bindungslosigkeit des Wahlvolkes hat bei den Politikern die Zweifel an dessen Urteilsfähigkeit bestärkt. Auch vor Fischers Auftritt im Visa-Ausschuss mangelte es nicht an Mahnung, das Publikum könne die komplexe Materie unmöglich verarbeiten und werde sich von der Selbstdarstellung beeindrucken lassen.

Diese Skepsis ist nicht neu. Bereits der Staatstheoretiker Jean Jacques Rousseau sah die ursprüngliche Güte und Weisheit der menschlichen Natur durch die Kultur verschüttet und machte aus seiner Abneigung gegen das falsche, die Bürger verwirrende Spiel des Theaters keinen Hehl. Auch Friedrich Schiller, zweifellos ein Mann vom Fach, war sich sicher, dass die Schaubühne tiefer und dauernder wirke als Moral und Gesetze - ohne diesen Umstand allerdings zu bedauern.

Wenn dies schon für die Politik allgemein gilt, wie sehr muss es dann die Arbeit eines Untersuchungsausschusses erschweren, der justizförmig angelegt und der Wahrheitsfindung verpflichtet ist. Vermag der Bürger überhaupt zu erkennen, was Lüge und was Wahrheit ist? Für eine Opposition, die den Außenminister der Lüge überführen will, mag diese Frage entscheidend sein. Doch für das Publikum wird es weniger darauf ankommen, ob Fischer die Wahrheit sagt, als vielmehr darauf, ob er wahrhaftig ist. Beides hängt zusammen, ist jedoch nicht dasselbe.

Eine Falschaussage bleibt eine falsche Aussage, auch wenn sie hernach relativiert wird. Doch untergräbt sie erst die Wahrhaftigkeit des Politikers, wenn dieser sie willentlich in täuschender Absicht gemacht hat. Andererseits weiß das Publikum, dass Politiker immer mit Teilwahrheiten handeln, um ihre jeweilige Position zu begründen. Noch jede Einschätzung der wirtschaftlichen Lage oder der Stabilität des Gesundheitssystems wird mit divergierenden Tatsachenbehauptungen belegt. Auch der Visa- Skandal ergab sich nicht allein aus den Fakten. Die lagen monatelang vor und blieben unbeachtet. Erst eine Reihe politischer Umstände ließ die mediale Aufregung anschwellen. Soviel zur Wahrhaftigkeit der Vorwürfe.

Umgekehrt kann es der Wahrhaftigkeit eines Politikers abträglich sein, die Wahrheit nicht zu sagen indem er Nicht-Erinnern oder Nicht-Wissen vorschützt. Eine in Untersuchungsausschüssen leider häufig anzutreffende Praxis. Sie wird zumeist öffentlich kaum wahrgenommen, weil über Nicht-Erinnern schlecht berichtet werden kann. Wer sie jedoch einmal live miterlebt hat, dem wird sich die Schwäche einer solchen Selbstverteidigung kaum verschließen. Es ist keine Lüge und doch leidet die Glaubwürdigkeit.

Weil es eben nicht eine Frage der Selbstdarstellung einerseits oder der Wahrheitsfindung andererseits ist, sondern sich beide Elemente im Medium der Wahrhaftigkeit zu einem authentischen Bild des Politikers verdichten, kann man dem Publikum durchaus ein kundiges Urteil darüber zutrauen, ob es ihm weiterhin vertrauen will. Und allein darauf kommt es schließlich an.

Dieter Rulff Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Seit dem März 2002 ist Rulff freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte.