Ein Faible für die Commedia dell'Arte

Von Judith Kochendörfer |
Drei Wochen lang dienen die Straßen und Plätze rund um den Pariser Montmartre als Spielorte für Theatergruppen aus aller Welt. Auf dem Festival "Les tréteaux nomades" - zu deutsch: Die Wanderbühnen - zeigt unter anderem die Gruppe "La Compagnie du Mystère bouffe" ihr Können. Deren Chef ist Gilbert Bourébia. Er hat das Festival initiiert und liebt die Commedia dell'Arte über alles.
Paris, im Stadtteil Marais, nahe der Rue de Rivoli, der offene Innenhof des Verwaltungsgebäudes Hotel de Beauvais. Mehrere Sitzreihen, Leuchten, und eine Bühne, bestehend aus nichts weiterem als einem Brettergestell und einem aufgespannten Leinentuch.

"Mesdames et messieurs, les enfants, chaque publique, bonsoir!"

Acht Schauspieler in grellbunten Kostümen, im Gesicht weiß und an den Wangen rot geschminkt, hüpfen, tanzen, singen, schneiden Grimassen. Erzählt wird die "unglaubliche Geschichte von Tang-Tse-Kiang": Zwei verfeindete Familien im Frankreich des 17. Jahrhunderts streiten sich um eine Wasserquelle. Der rechtmäßige Eigentümer dieser Quelle ist ein chinesischer Edelmann, dessen Tochter Tang-Tse Kiang jetzt an eine dieser Familien verheiratet werden soll.

"Jacques! Jacques! - ah, ah!"

Die Theatertruppe heißt "La Compagnie du Mystère bouffe" - "Kompagnie des komischen Geheimnisses". Seit 30 Jahren schon spielt sie Geschichten wie die von Tang-Tse Kiang als Commedia dell’arte: mit übertriebenen Farben, übertriebenem Witz, übertriebener Mimik und Gestik.
Am Bühnenrand steht der Leiter der Kompagnie, Regisseur und Autor des Stücks, und beobachtet amüsiert, wie sich das Publikum von der Erstaufführung mitreißen lässt. Gilbert Bourébia ist um die 50, groß und schlacksig, hat graumelierte, kurze Haare, trägt eine Brille und einen hellen Anzug.

"Es ist Volkstheater: Hier ist es wichtig, Spaß zu haben und gleichzeitig bestimmte Probleme anzusprechen. Probleme aus unserer Gesellschaft, wie Armut, Wasser, Immigration - wir haben hier zwei Familien, eine afrikanische, eine französische. Und das Thema: fremd zu sein in einem anderen Land. Zusammen leben. Andere Menschen respektieren, auch wenn die Kulturen verschieden sind."

Auf der Bühne im Hotel de Beauvais ist man indessen noch nicht zum Respekt gegenüber anderen Kulturen vorgedrungen. Gerade erstechen sich dort fast alle Personen gegenseitig mit dem Degen: der Sohn der einen Familie und die Haushälterin der anderen...

"ah! Uff!"

... die Tochter der einen Familie und die Mutter der anderen...

"oooh! Uff!"

... der Sohn der zweiten Familie und der Diener der ersten.

"uuhh! Uff!"

Gilbert Bourébia kennt sich aus mit anderen Kulturen und dem Respekt vor ihnen. Mit einem algerischen Vater und einer tunesischen Mutter ist er in Paris aufgewachsen, als einer von tausenden von afrikanischen Einwanderern, die das Gesicht dieser Stadt prägen. Das Straßentheater war seine erste große Liebe, ihr ist er bis heute treu geblieben.

Mit 22 Jahren studierte Bourébia bildende Kunst an der École des Beaux Arts in Paris, übte das aber nie aus, sondern stand nebenher stets mit seiner Kompagnie auf den Bühnenbrettern, ohne irgendeine Schauspielausbildung. Auf die Frage, ob er jemals "seriöses" Schauspiel machen wollte, hat Gilbert Bourébia eine simple Antwort:

"Non."

"Diese Form der Commedia dell’ arte ist perfekt für mich. Ich sehne mich nicht nach anderen Theaterformen. Ich schaue mir gern 'seriöses' Theater an, aber um mich auszudrücken, brauche ich die Commedia dell’ arte. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass ich damit das erzählen kann, was ich erzählen möchte."

Wenn Gilbert Bourébia redet, weiten sich seine Augen, spitzen sich die Lippen, wedeln die Hände. Das Mienenspiel, das er als Schauspieler braucht, hat er in den alltäglichen Rahmen übernommen.
Die Bretter, auf denen Gilbert Bourébia vor drei Jahrzehnten spielte, sind noch genau die gleichen wie die, die heute im Hof des Hotel de Beauvais stehen. Das jährliche Straßentheaterspektakel, bei dem auch noch rund 15 andere Truppen auftreten, wurde von Bourébia mitgegründet.

"Diese Form des Theaters ist sehr visuell. Und sehr politisch. Wir machen allerdings nicht wirklich Straßentheater, sondern Theater in der Straße. Straßentheater, das die Vorbeigehenden anzieht, hat keine Dramaturgie, ist mehr Improvisation. Unser Theaterstück hat eine Dramaturgie, das Publikum sitzt da und muss die Handlung verfolgen."

Gilbert Bourébias Schauspieler müssen nicht nur komisch spielen können, sondern auch halbwegs anständig singen. Hin und wieder kommt es vor, dass der Chef selbst zum Saxofon greift oder sich ans Schlagzeug setzt, mal auf der Bühne, mal mit seiner Band. Diese heißt "Ile axé", macht brasilianische Musik und tritt auf verschiedenen französischen Festivals auf.

Die Handlung der Geschichte um Tang-Tse Kiang schreitet mittlerweile auf ihren Höhepunkt zu. Alle vorher erstochenen Personen sind wieder auferstanden. Tang-Tse Kiang, die hohe chinesische Tochter, wird mit einem ihrer zwei Verehrer vermählt, und alle anderen bekommen auch jemanden ab, den sie lieben dürfen. Am Ende gibt es vier Hochzeiten gleichzeitig und als Zugabe ans Publikum noch ein chinesisches Lied.