Ein elitäres Blatt im besten Sinne

Moderation: Joachim Scholl |
Seit 50 Jahren gibt es die "New York Review of Books", die einflussreiche Literaturzeitschrift der USA. Für Gründer Robert B. Silvers ist trotz seiner 83 Jahre Ruhestand kein Thema: Noch immer nehme ihm jede Ausgabe voll in Beschlag, sagt er.
Joachim Scholl: 1.024 Ausgaben, 7.759 Autoren, 11.266 Rezensionen, 56.634.347 wohlgesetzte Worte – das ist die penibel genau gezählte Bilanz von 50 Jahren "New York Review of Books", laut dem Magazin "Esquire" das wichtigste literarisch-intellektuelle Magazin in englischer Sprache. Gegründet wurde die "Review" 1963 von Robert B. Silvers. Er ist alleiniger Herausgeber und Redakteur, und bis heute trabt der inzwischen 83-Jährige jeden Morgen in sein Büro in der Hudson Street, wo wir ihn auch telefonisch erreicht haben. Guten Morgen, good morning, Mr. Silvers!

Robert B. Silvers: Good morning!

Scholl: Zunächst unseren herzlichen Glückwunsch zu 50 Jahren "New York Review of Books"! Wundern Sie sich nicht selber, Mr. Silvers, dass dieses ehrwürdige Schiff immer noch so flott segelt?

Silvers: Es ist ja sehr freundlich von Ihnen, dass Sie diese 50 Jahre erwähnt haben. Ich selber sehe die Zeitschrift aber keineswegs als ein Schiff an. Wir kommen alle zwei Wochen heraus, wir kritisieren die neuesten Bücher, wir haben große Leitartikel von der ersten Seite an zu den jeweils drängenden Themen der Gegenwart – also es ist weder alt, noch ein Schiff, noch hat es irgendwelche Segel.

Scholl: Lassen Sie uns ein wenig über die Vergangenheit sprechen, Mr. Silvers. Das Besondere an der "Review" war ja von Anfang an, dass sie keine Redakteure hatte, sondern nur Aufträge vergab. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Silvers: Ja, wir hatten nie schreibende Angestellte. Wir hatten eine ganz einfache Idee: Ich hatte im "Harper’s Magazine" einen flammenden Artikel veröffentlicht über den Niedergang der literarischen Kritik in der "New York Times". Ich schrieb damals, das sei alles so abgestanden und langweilig und oberflächlich, es fehle da wirklich an exzentrischen, leidenschaftlichen Aufwallungen. Und dieser Artikel fand auch die Unterstützung von Elizabeth Hardwick und erzeugte dann einen Sturm. Es gab daraufhin auch einen Streit in der "New York Times", und genau dann wurde gesagt: Leute, jetzt ist der richtige Moment, um etwas Neues anzufangen.

Elizabeth Hardwick, Barbara Epstein und ich, wir haben dann also dieses Projekt gestartet, mit einer ganz einfachen Grundidee: Wir schrieben an die Leute, die uns überzeugten, sie sollten uns in drei Wochen ohne jede Bezahlung eine Buchkritik einreichen. Und viele sprangen auf: Mary McCarthy, Susan Sontag, Corey Vidal und einige andere haben zugesagt. Wir haben die Artikel, die Kritiken eingesammelt und haben dann das Ganze veröffentlicht, und es war sofort ein Erfolg, die Verlage sind aufgesprungen, sie haben dann auch Seiten gebucht. Und wir schrieben auch: Wenn es Ihnen gefallen hat, schreiben Sie uns – und wir bekamen 1.000 Briefe. Und so geriet das Ganze in Fahrt.

Scholl: Jetzt haben Sie schon einige berühmte Namen genannt, Mr. Silvers. 1963, das war die Zeit des amerikanischen New Journalism, da stromerten Truman Capote, Tom Wolfe und der von Ihnen schon erwähnte Norman Mailer als junge, hungrige Hunde durch New York City, mit John Updike ging gerade ein neuer Stern am Literaturhimmel auf, und alle, alle schrieben für Sie, Mr. Silvers. Wie war das mit diesen Leuten, sie zu treffen, sie zu sprechen? Da muss es doch schöne Anekdoten geben.

Silvers: Nun, da kam ja gleich eine sehr spitze Dialektik ins Spiel. Wir haben unterschiedlichste Autoren gebeten, zu schreiben, Mary McCathy etwa, über Burroughs und Norman Mailer, über (…) Hemingway – das war immer wieder ein Spiel, das im Ausgang nicht vorhersehbar war. Im September etwa kam der neue Roman von Mary McCathy, "The Group", heraus, ein Buch über das Erwachen und Älterwerden in sexueller, emotionaler und intellektueller Hinsicht bei einer Gruppe von Frauen. Wir haben dann dieses Buch, das überall hoch gelobt wurde, zerreißen lassen. Und so entstand also diese merkwürdige Situation, dass Norman Mailer zunächst mal sagte, ach, ich möchte mich eigentlich mit Mary McCathy nicht anlegen, was geschieht denn, wenn ich sie kritisiere? Er hat es trotzdem gemacht.

Robert Lowe etwa schrieb dann eine Parodie über eine vorher erschienene Kritik, und es gab immer wieder diesen Zusammenprall von ganz unterschiedlichen Meinungen. Autoren, die wir sehr schätzten, wurden zerrissen, und umgekehrt: Menschen, denen wir eigentlich verpflichtet waren, konnten dann wiederum andere niedermachen. Das gehört einfach ganz entscheidend zu diesem Geschäft der Literaturkritik hinzu. Es geht nicht um irgendwelche Hochglanzartikel oder über das redliche Geschäft der Kritik, sondern man muss Risiken eingehen, wenn man Literaturkritik ernst nimmt. Das ist das Entscheidende.

Scholl: Auf was, Mr. Silvers, kommt es Ihnen an bei den Texten? Sie haben fast alle der zirka 15.000 Besprechungen und Essays selbst redigiert und Sie gelten als ein strenger Lektor.

Silvers: Wir setzen unsere Hoffnung immer darauf, dass ein Stück glanzvolle, funkelnde Prosa herauskommt, etwas Packendes, Fesselndes, was durch die bloße Machart schon anspricht, nicht eine trockene Beschreibung oder eine nüchterne Analyse, sondern das Wagnis der Sprache, die eben nicht dürr ist, sondern der Einbildungskraft Nahrung gibt. In anderen Worten: Wir wollen die toten und abgestorbenen Klischees vermeiden, die wir immer und immer wieder hören in der Sprache des Journalismus, in den Rezensionen, in all den Zeitschriften. Das interessiert uns nicht.

Scholl: 50 Jahre "New York Review of Books", Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Gründer, Kopf und Herausgeber der Literaturzeitschrift Robert B. Silvers. Ihr Blatt, Mr. Silvers, ist auch formal ein Unikat in der Magazinlandschaft, keinerlei Zugeständnis an den Zeitgeist, kein Hochglanz, so gut wie keine Fotos, höchstens Zeichnungen, und dann riesige Textwüsten auf dünnem Papier. Wie haben Sie es eigentlich geschafft, so zu überleben und die Auflage sogar noch zu steigern?

Silvers: Nun, das ist eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Zunächst einmal bemühen wir uns, das billigste und handelsüblichste Zeitungspapier zu nehmen, wie es zum Beispiel auch bei der "Bild"-Zeitung oder in der "New York Post" verwendet wird. Das billigste Material ist gerade gut genug für uns. Und wir versuchen dem Ganzen natürlich einen ernsthaften, eleganten und auch zum Lesen einladenden Anstrich zu verleihen, etwa durch unser Layout, aber dann durch die eine oder andere eingestreute Zutat aus der Geschichte der Kunst. Von Daumier angefangen bis hin zu unserem David Levine, wir haben berühmte Namen wie John Springs oder Angus Ferguson derzeit unter unseren Künstlern, das heißt, wir geben uns schon Mühe, auch dem Auge etwas zu bieten, ganz zu schweigen von den Fotografen: Cartier-Bresson oder Bruce Weber sind bei uns auch vertreten.

Es gibt in jedem Heft auch mindestens ein bis zwei Seiten, die mit Kunst befasst sind, so wie es in jedem Heft auch einen Artikel über Naturwissenschaft gibt, einen über die internationale Politik, einen über die Politik in den USA, einen Artikel über Dichtung und fiktive Literatur, und das alles würzen wir mit Werken von zeitgenössischen Künstlern, mit Karikaturen – kurz: Das Gepräge unserer Zeitschrift soll möglichst attraktiv und zugleich informativ sein.

Scholl: Mitfinanziert wird die "Review" von dem Verleger und Fan von Ihnen, Rea Haderman, alle zwei Wochen erscheint eine Ausgabe, liegt am Kiosk, an die 140.000 Leser soll die "Review" regelmäßig haben. Inzwischen gibt es das Magazin aber auch online, Mr. Silvers, also so viel Moderne musste schon sein. Geht das eigentlich gut zusammen, kostet das nicht Käufer?

Silvers: Ja, wir bewegen uns ja mitten im Wettbewerb, die Welt wird immer stärker geprägt durch die elektronischen Medien, das wissen Sie. Wir haben jetzt eine Auflage von 143.000, darunter neun Prozent Abonnenten, die nur die elektronische Fassung beziehen. Dieser Anteil wird steigen auf zehn Prozent im nächsten Jahr. Immer noch ist die gedruckte Ausgabe die große Mehrzahl der Abonnenten, die ja auch häufig schon ein gewisses Alter erreicht haben, die aber treu zu uns halten, die auch ihre Abonnements regelmäßig erneuern, 86 Prozent der Abonnenten erneuern es. Kurz: Wir haben eine Mischung aus alt und neu, aus elektronisch und analog, und wir arbeiten jede Woche, jeden Monat daran, das Ganze noch in ein besseres Gleichgewicht zu bringen.

Scholl: Und bis heute, Mr. Silvers, sind es, ja, die berühmtesten Intellektuellen, die bei Ihnen schreiben, in der vorletzten Ausgabe waren es Oliver Sacks und Stephen Greenblatt – mittlerweile bekommen Sie wahrscheinlich jeden, wenn Sie zum Telefon greifen, oder?

Silvers: Das wäre ja schön, wenn dem so wäre. Oft beißen wir uns die Zähne aus, fragen bei fünf unterschiedlichen Leuten an, um eine Rezension zu bekommen, manchmal warten wir ein ganzes Jahr, ehe dann unser Wunsch erfüllt wird. Das heißt, wir schaffen nicht immer, unseren eigenen Qualitätsmaßstäben zu genügen, und manchmal ist es auch ein Schlag ins Wasser.

Scholl: 50 Jahre machen Sie diese Arbeit nun, Mr. Silvers, still going strong, auch mit 83. Denken Sie nicht manchmal daran, sich zurückzuziehen?

Silvers: Ich muss Ihnen ganz offen sagen, oft sagen die Leute: Irgendwann musst du dich doch auch ins Altenteil begeben. Aber ich muss sagen: Ich bin so gefangen in meiner Alltagsarbeit, jede Ausgabe nimmt mich so in Beschlag, dass ich gar nicht daran denke, in Ruhestand zu gehen. Irgendwann wird es sich ja nicht vermeiden lassen, aber wir haben bereits Nachwuchs, wir haben ja so viele gute Redakteure, wir haben brillante Schreibende unter uns, dass ich keinerlei Zweifel hege: Wenn ich irgendwann vom Bus überfahren werde oder wenn ich sonst mich zurückziehen muss, dann wird die Sache weitergehen, die Zeitschrift wird weiterleben.

Scholl: Aber wir hoffen, dass Sie und die "New York Review of Books" uns und der intellektuellen Welt noch lange erhalten bleiben. Alles Gute für Sie, Robert B. Silvers, und einen weiteren produktiven Tag in Ihrem Blatt wünschen wir und herzlichen Dank für dieses Gespräch! Thank you so much, Mr. Silvers, for being with us!

Silvers: Well, thank you and thank you for your brillant translation!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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Website der "New York Review of Books"