Ein eingezwängter Riese
Der Historiker Gregor Schöllgen analysiert in seinem Buch "Jenseits von Hitler" die Rolle der Deutschen in der Weltpolitik. Zeitlich spannt er dabei den Bogen von Bismarck bis heute und untersucht, wie dieses Land lange eingezwängt war zwischen den eigenen Ambitionen nach Macht und Sicherheit und den Ängsten seiner Nachbarn.
Wer wollte bestreiten, dass die Deutschen sich mit nahezu jeder Form von Entwicklung schwer tun?
"Verglichen mit anderen, zumal großen Nationen waren die Deutschen recht spät dran. Die Deutschen taten die Schritte zum Nationalstaat, zur Großmacht, zur Industrienation, zur Kolonial- bzw. Weltmacht, zur Republik oder zur funktionierenden parlamentarischen Demokratie erst, als vergleichbare Nationen diese bereits hinter sich hatten. "
Gregor Schöllgen beschreibt das Gefühlsleben der Deutschen nach der Reichsgründung 1871.
"Endlich, so das verbreitete Empfinden, waren die Deutschen nicht mehr nur Bauern auf dem europäischen Schachbrett, war ihr Land nicht länger Verfügungsmasse und Kompensationsobjekt seiner Nachbarn. "
Aber das Dramatische an der Reichsgründung von 1871 war, dass auf dem europäischen Schachbrett ein verspäteter neuer Riese auftrat, der die bisherigen Kräfteverhältnisse durcheinander wirbelte. Und dass der Riese, wie sich in der Folge zeigte, seine Rolle nicht immer geschickt spielte, machte die Situation wahrlich nicht besser. Gregor Schöllgen, Historiker an der Universität Erlangen, hat mehrere Bücher zur Geschichte internationaler Beziehungen verfasst und ist Herausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes. Mit seinem neuen Werk "Jenseits von Hitler" schreibt er nach eigenem Bekunden:
"...die erste übergreifende Darstellung Deutschlands in der Weltpolitik von Bismarck bis zur Gegenwart. "
Er will aus dem hegemonialen Bestreben, das dem Deutschen Reich gleichsam als Geburtsfehler in die Wiege gelegt worden war, die Geschichte nachzeichnen, die in Hitler – mit den Vorstufen des Ersten Weltkriegs und den anschließenden Friedensverträgen – ihren katastrophalen Höhe- und Wendepunkt gefunden hat.
Doch das Buch ist aus verschiedenen Gründen sehr uneinheitlich. Es beginnt wie ein Roman:
"Die Alpträume waren lästig. Vor allem als sie chronisch wurden. "
Das hat dramatische Wucht und erzeugt einen Sog, den die Erzählung zunächst auch hält. Was naturgemäß am Thema liegt:
Wie Bismarck, um mit den vielen Bauern, Springern und Königen auf dem Schachbrett fertig zu werden, immer neue Bündnisse strickte, bis er sich am Ende kaum noch bewegen konnte, liest sich spannend wie ein Krimi. Den offiziellen Verträgen wurden oft noch Geheimzusätze angefügt, so dass sich der Leser am Ende fragt, warum damals überhaupt noch jemand einen Vertag abschloss, wo er doch wissen musste, dass sein Partner bereits woanders gegen ihn einen Geheimvertrag abgeschlossen hatte. Niemand konnte sich sicher fühlen. Schöllgen schreibt über sein Buch:
"Die Darstellung ist aus den Quellen gehoben, allen voran den Akten des Auswärtigen Amtes. "
Und da zeigt sich schnell die Begrenztheit der Methode. Ein Beispiel:
"Die Afrika-Kampagne Otto von Bismarcks, wie immer sie sich erklärte, hatte seine Landsleute auf den Geschmack gebracht... "
...und so weiter. Dieses "wie immer sie sich erklärte" fehlt uns nun. Dass es diese Kampagne gab, weiß man, aber warum es sie gegeben hat, das hätten wir gern erklärt bekommen.
Schöllgen ist ausgesprochen faktenhuberisch, aber er zeigt uns nicht, warum jemand so handelte, wie er handelte. Wir werden nicht an der Entstehung von Entscheidungen beteiligt, sondern mit einer groben Kennzeichnung der nationalen oder bündnispolitischen Interessenlagen abgespeist.
Schöllgen geleitet uns auf einer tour d’horizon durch die Entwicklung der "deutschen Frage" – wie dieses Land eingezwängt wird zwischen den eigenen Ambitionen nach Macht und Sicherheit und den Ängsten seiner Nachbarn, die ebenfalls um ihre Macht und Sicherheit besorgt waren. Man erkennt die Bewegungsmuster dieses Landes, die im Lauf der Zeit – und das zu zeigen ist ein Ziel des Buches – umso sozialverträglicher wurden, je einfacher sie wurden.
Die Bündnisspiele der ersten Jahrzehnte enden mit Hitlers Desaster. Mit Adenauers eindeutiger Westbindung gilt Deutschland nicht mehr als unkontrollierbarer Überraschungsgegner, auch die Ressentiments, die in der Epoche der deutschen Wiedervereinigung noch einmal aufkamen, sind durch die weiterhin eindeutige Bindung an den Westen und durch die europäische Integration mittlerweile überwunden.
"Nicht am Zerstörungs- und Vernichtungswerk des Dritten Reiches wird die deutsche Politik gemessen, sondern an den Aufbau- und Integrationsleistungen der Bundesrepublik. Die Deutschen sind aus Hitlers Schatten getreten. "
Das zu belegen ist der Zweck von Schöllgens Buch. Nach einem furiosen Auftakt gerät die Erzählung jedoch immer mehr in ruhiges, dann leider sehr ruhiges Fahrwasser. Da hilft dem Wohlwollenden nicht einmal die deutlich sozialdemokratische Neigung des Brandt-Biographen Gregor Schöllgen – die zweite Hälfte des Buches nimmt man lediglich zur Kenntnis.
Gregor Schöllgen: Jenseits von Hitler. Die Deutschen in der Weltpolitik von Bismarck bis heute
Propyläen 2005
400 Seiten, 24,90 Euro
"Verglichen mit anderen, zumal großen Nationen waren die Deutschen recht spät dran. Die Deutschen taten die Schritte zum Nationalstaat, zur Großmacht, zur Industrienation, zur Kolonial- bzw. Weltmacht, zur Republik oder zur funktionierenden parlamentarischen Demokratie erst, als vergleichbare Nationen diese bereits hinter sich hatten. "
Gregor Schöllgen beschreibt das Gefühlsleben der Deutschen nach der Reichsgründung 1871.
"Endlich, so das verbreitete Empfinden, waren die Deutschen nicht mehr nur Bauern auf dem europäischen Schachbrett, war ihr Land nicht länger Verfügungsmasse und Kompensationsobjekt seiner Nachbarn. "
Aber das Dramatische an der Reichsgründung von 1871 war, dass auf dem europäischen Schachbrett ein verspäteter neuer Riese auftrat, der die bisherigen Kräfteverhältnisse durcheinander wirbelte. Und dass der Riese, wie sich in der Folge zeigte, seine Rolle nicht immer geschickt spielte, machte die Situation wahrlich nicht besser. Gregor Schöllgen, Historiker an der Universität Erlangen, hat mehrere Bücher zur Geschichte internationaler Beziehungen verfasst und ist Herausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes. Mit seinem neuen Werk "Jenseits von Hitler" schreibt er nach eigenem Bekunden:
"...die erste übergreifende Darstellung Deutschlands in der Weltpolitik von Bismarck bis zur Gegenwart. "
Er will aus dem hegemonialen Bestreben, das dem Deutschen Reich gleichsam als Geburtsfehler in die Wiege gelegt worden war, die Geschichte nachzeichnen, die in Hitler – mit den Vorstufen des Ersten Weltkriegs und den anschließenden Friedensverträgen – ihren katastrophalen Höhe- und Wendepunkt gefunden hat.
Doch das Buch ist aus verschiedenen Gründen sehr uneinheitlich. Es beginnt wie ein Roman:
"Die Alpträume waren lästig. Vor allem als sie chronisch wurden. "
Das hat dramatische Wucht und erzeugt einen Sog, den die Erzählung zunächst auch hält. Was naturgemäß am Thema liegt:
Wie Bismarck, um mit den vielen Bauern, Springern und Königen auf dem Schachbrett fertig zu werden, immer neue Bündnisse strickte, bis er sich am Ende kaum noch bewegen konnte, liest sich spannend wie ein Krimi. Den offiziellen Verträgen wurden oft noch Geheimzusätze angefügt, so dass sich der Leser am Ende fragt, warum damals überhaupt noch jemand einen Vertag abschloss, wo er doch wissen musste, dass sein Partner bereits woanders gegen ihn einen Geheimvertrag abgeschlossen hatte. Niemand konnte sich sicher fühlen. Schöllgen schreibt über sein Buch:
"Die Darstellung ist aus den Quellen gehoben, allen voran den Akten des Auswärtigen Amtes. "
Und da zeigt sich schnell die Begrenztheit der Methode. Ein Beispiel:
"Die Afrika-Kampagne Otto von Bismarcks, wie immer sie sich erklärte, hatte seine Landsleute auf den Geschmack gebracht... "
...und so weiter. Dieses "wie immer sie sich erklärte" fehlt uns nun. Dass es diese Kampagne gab, weiß man, aber warum es sie gegeben hat, das hätten wir gern erklärt bekommen.
Schöllgen ist ausgesprochen faktenhuberisch, aber er zeigt uns nicht, warum jemand so handelte, wie er handelte. Wir werden nicht an der Entstehung von Entscheidungen beteiligt, sondern mit einer groben Kennzeichnung der nationalen oder bündnispolitischen Interessenlagen abgespeist.
Schöllgen geleitet uns auf einer tour d’horizon durch die Entwicklung der "deutschen Frage" – wie dieses Land eingezwängt wird zwischen den eigenen Ambitionen nach Macht und Sicherheit und den Ängsten seiner Nachbarn, die ebenfalls um ihre Macht und Sicherheit besorgt waren. Man erkennt die Bewegungsmuster dieses Landes, die im Lauf der Zeit – und das zu zeigen ist ein Ziel des Buches – umso sozialverträglicher wurden, je einfacher sie wurden.
Die Bündnisspiele der ersten Jahrzehnte enden mit Hitlers Desaster. Mit Adenauers eindeutiger Westbindung gilt Deutschland nicht mehr als unkontrollierbarer Überraschungsgegner, auch die Ressentiments, die in der Epoche der deutschen Wiedervereinigung noch einmal aufkamen, sind durch die weiterhin eindeutige Bindung an den Westen und durch die europäische Integration mittlerweile überwunden.
"Nicht am Zerstörungs- und Vernichtungswerk des Dritten Reiches wird die deutsche Politik gemessen, sondern an den Aufbau- und Integrationsleistungen der Bundesrepublik. Die Deutschen sind aus Hitlers Schatten getreten. "
Das zu belegen ist der Zweck von Schöllgens Buch. Nach einem furiosen Auftakt gerät die Erzählung jedoch immer mehr in ruhiges, dann leider sehr ruhiges Fahrwasser. Da hilft dem Wohlwollenden nicht einmal die deutlich sozialdemokratische Neigung des Brandt-Biographen Gregor Schöllgen – die zweite Hälfte des Buches nimmt man lediglich zur Kenntnis.
Gregor Schöllgen: Jenseits von Hitler. Die Deutschen in der Weltpolitik von Bismarck bis heute
Propyläen 2005
400 Seiten, 24,90 Euro