Ein Eid für Einwanderer?

Von Jürgen Kaube |
Wenn man um 1920 herum in die Vereinigten Staaten einreisen wollte, musste man zuvor einen Bogen ausfüllen, der eine Reihe von Fragen zur politischen Gesinnung des Einwanderers enthielt. Zum Beispiel: "Sind Sie ein Anarchist?" oder "Würden Sie es befürworten, die Regierung der Vereinigten Staaten gewaltsam zu stürzen?" Worauf ein witziger Engländer antwortete "Woher soll ich das wissen, bevor ich das Land gesehen habe?"
In Deutschland wird gerade über ähnliche Verfahren nachgedacht, um sich der demokratischen Gesinnung von Einwanderern zu versichern. Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann hat vor, Zuwanderer, die eine deutsche Staatsbürgerschaft anstreben, den Eid auf die deutsche Verfassung ablegen zu lassen. Bereits vorgesehen im Zuwanderungsgesetz sind seit Anfang des Jahres so genannte Integrationskurse, in denen neben 600 Stunden Sprachunterricht auch 30 Stunden Gesellschaftskunde abgehalten werden. Der niedersächsische Innenminister möchte zusätzlich, dass am Ende dieser Kurse alle Einwanderer ein Bekenntnis zu den demokratischen Grundwerten, den Prinzipien des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung von Frau und Mann sowie der Toleranz und Religionsfreiheit unterschreiben. Wer sich weigere, dem sollten wie nach einem Schwänzen der Sprachkurse die Sozialleistungen gekürzt werden, bis hin zur Verweigerung des weiteren Aufenthalts.

Es ist in der Tat nur recht und billig, von Einwanderern Sprachkenntnisse und Gesetzestreue zu verlangen - und zwar zu ihrem eigenen wie zum Nutzen des Gemeinwesens. Dessen wichtigste Spielregeln sind in der Tat die Verfassung und die Grammatik. Bemerkenswert ist allerdings der drohende Unterton, mit dem zu Verfassungseid und Deutschstunde eingeladen wird. Stets hört es sich so an, als stünden die Zuwanderer unter Verdacht, gleichgültig oder gar feindselig gegenüber der hiesigen Gesellschaftsordnung zu sein. Und es wird der Eindruck erweckt, als könne man das Gegenteil durch Schwur und Sprachstudium erzwingen.

Nun würden echte Feinde vermutlich keine Sekunde zögern, solche Prozeduren über sich ergehen zu lassen. Auch ein religiöser Fundamentalist wird nicht glauben, dass ihm die Hand abfällt, wenn er sie zum Schwur aufs Grundgesetz hebt. Aber angenommen selbst, man würde den heimlichen Verfassungsfeind durch den Eid in einen Widerspruch zwischen sichtbarer Handlung und Gesinnung verstricken - was hätte man davon? Wer hierzulande die Gesetze übertritt, macht auch ohne dass er zuvor auf sie geschworen hat, die Bekanntschaft mit den Gerichten. Schließlich schützt ja nicht einmal Unwissenheit vor Strafe. Und schließlich müssen ja auch Deutsche, die niemals auf die Verfassung geschworen haben, sich an die Gesetze halten.

Dass man von zugewanderten Neubürgern einen solchen Schwur verlangt, mag unter einer Bedingung trotzdem angehen: Wenn der Eid kein Test, sondern ein Symbol ist. Ein Symbol wofür? Die Antwort kann nur lauten: Für ihren Willen, Deutsche zu werden. Das heißt aber auch: Für unsere Bereitschaft, sie zu Deutschen zu machen. Wenn man die Leute auf die Verfassung eines Landes schwören lässt, das nicht ihr Vaterland ist, und eine Sprache lernen lässt, die nicht ihre Muttersprache ist, dann bedeutet das nicht in erster Linie, ein internationaleres und multikulturelleres Deutschland anzustreben.

In erster Linie bedeutet es das Umgekehrte: Es sollen Migranten zu Einheimischen werden. Die Rede davon, sie müssten unsere "Leitkultur" übernehmen, drückt das etwas unklar aus. Und warum drückt sie es so unklar aus? Es gibt vermutlich zwei Gründe. Zum einen glauben viele nach wie vor gar nicht, dass man aus einem Türken oder einer Marokkanerin vollgültige Inländer machen kann: Weil sie deutsch sein für etwas unendlich kompliziertes, problematisches und voraussetzungsvolles halten. Und jedenfalls nichts, was man frohen Herzens ist.

Zum anderen aber wissen viele, die das Wort "Leitkultur" verwenden, dass sie damit mehr an Ideen und Behauptungen als an Wirklichkeiten appellieren. Wenn eine Familie aus Anatolien durch eine deutsche Innenstadt geht, oder ein hiesiges Fernsehprogramm anschaltet - welche Art von Kultur begegnet ihr denn dort? Welche Leitkultur herrscht, diesseits der Verfassung, in unserem öffentlichen Leben, in der Wirtschaft, im Umgang mit Kindern? Wie wird mit religiösen, kulturellen oder intellektuellen Traditionen in den Schulen oder auf den Theaterbühnen umgegangen?

Auf diese Fragen gibt es viele Antworten, und es sind nicht nur kulturpessimistische. Aber dass das Gesicht unserer Kultur eines ist, das jeden, der unseren Wohlstand schätzt, aber unser Land nicht kennt, zu umstandlosem Mitmachen begeistern muss, das wird man nicht behaupten wollen. Und weil wir eben selber darin zögern, wirkt unsere Einladung an die Migranten, Deutsche zu werden, oft entweder drohend oder verlegen. Und fast nie selbstbewusst.

Die meisten Einwanderer kommen freiwillig. Also darf man etwas von ihnen verlangen: Die Bereitschaft zum Spracherwerb und den Gehorsam gegenüber den Gesetzen. Deutsche zu werden, kann man von denen, die dableiben wollen, auch verlangen. Aber nur, wenn man ihnen damit mehr anzubieten weiß als eine Arbeitserlaubnis und die Mitgliedschaft in unseren Sozialversicherungen. Um Leitkultur zu heißen, müsste es etwas spezifisch Deutsches sein, auf das die Inländer selber stolz sein könnten.

Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.