Ein Dokument des Grauens
Die 25-jährige „Newsweek“-Reporterin Julia Jusik hat mit über 50 Menschen und ihre Erinnerungen an die Geiselnahme in Beslan im Jahr 2004 gesprochen. Sie erzählen, halb verrückt vor Angst und Durst, in der Turnhalle der Schule Nr. 1 gefangen gehalten wurden und wie danach in Beslan nichts mehr war wie zuvor.
Eine Geiselnahme in Nordossetien, im September 2004. Mehr als tausend Menschen in Todesangst, von tschetschenischen Terroristen in einer mit Sprengstoff gespickten Turnhalle zusammengepfercht. Bilder der dilettantischen Stürmung der Schule durch russische Sicherheitskräfte. Halbnackte, verdurstende Kinder. Später die Leichensäcke für 331 Menschen, unter ihnen 186 Kinder, die erschossen, in die Luft gesprengt oder bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren. Das sind die Bilder, die von der Geiseltragödie in Beslan vor über zwei Jahren noch in Erinnerung sind.
Das wirkliche Ausmaß des Grauens begreift man, wenn man das Buch der jungen russischen Journalistin Julia Jusik gelesen hat. „Die Schule von Beslan. Das Wörterbuch des Schreckens“. Von A wie Augenblick bis Z wie Zorn lässt Julia Jusik die Überlebenden und Angehörigen der Getöteten von dem von Menschen gemachten Unglück erzählen, in das hunderte Beslaner Familien gestürzt wurden.
„Die Terroristen bekamen die Lage nicht unter Kontrolle und drohten die Nerven zu verlieren. Da stand ein Mann auf, hob die Hand und rief in den Saal: ‚Beruhigt euch doch, wir müssen ruhiger werden, ich bitte euch…’“
Er konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Ein Bewaffneter erschoss ihn aus nächster Nähe. Alle sehen die Ermordung: „‚Blut, Mama, das ist Blut!’ Sifa, die Mutter des zehnjährigen Schorik, beruhigt ihren Sohn. ‚Schorik, was denkst du denn, das ist Marmelade, Himbeermarmelade! Himbeermarmelade? Ich lächelte. ... Was mich dieses Lächeln gekostet hat. … Die Hölle. Himbeermarmelade.“
Mit über 50 Menschen aus Beslan hat die Autorin gesprochen. 27 Interviewpartner stimmten zu, dass ihr Name genannt werden darf. Sie erzählen, wie sie drei Tage lang, halb verrückt vor Angst und Durst, in der Turnhalle der Schule Nr. 1 gefangen gehalten wurden und wie danach in Beslan nichts mehr war wie zuvor. Manchen retten nur die Erinnerungen an sein Leben vor der Tragödie.
„Wir waren so glücklich miteinander… Herr im Himmel, wenigstens die Erinnerung kann mir niemand nehmen.“
Vielen Beslanern bleiben nur ihre toten Kinder, Frauen, Männer, Väter, Mütter. Und häufig genug haben sie nicht mal einen Leichnam, den sie in ein Grab legen können. Monatelang suchen sie nach ihren Angehörigen. Oft sind deren Körper derart verbrannt, dass nichts mehr an ihnen ist, woran sie sie erkennen können.
„Wissen Sie, wie ein gebratenes Huhn aussieht? Stellen Sie sich vor, Sie haben es bei großer Hitze angebraten und dann bei etwa 200 Grad in der Röhre schmoren lassen. So sah mein Junge aus. Das Fleisch hatte sich von den Knochen gelöst und man konnte bis auf die Knochen schauen.“
Doch selbst die Eltern, die ihr Kind beerdigen konnten, finden keine Ruhe mehr. Sie leben nur noch für das tote Kind, bringen ihm Blumen auf den Friedhof, tauschen das Sommerfoto auf dem Grabstein gegen eines mit Pullover aus, wenn es Winter wird, damit ihr Kind in der kalten Erde nicht friert.
Manche Familien in Beslan halten so ein Schicksal fast schon für Glück. „Wir wussten nicht, dass die Leichen unserer Kinder zurückgehalten wurden. Man gab sie nur in kleinen Dosen frei. Damit nicht in die Presse durchsickerte, wie viele tatsächlich verbrannt waren“, erzählen Rita und Alexander, die Eltern von Asa Gumezowa. „Am Tage legten sie die Leichen auf einem Lagerplatz aus, und am Abend kamen sie wieder zurück in die Waggons. Verkohlt, fast völlig verbrannt, gesichts- und geschlechtslos… Reste von verbranntem Fleisch. Am Tag lagen sie in Sonne und Regen, abends kamen sie wieder in den Kühlschrank zurück. Sie tauten auf und gefroren wieder. Bald waren sie voller Würmer… Drei Monate haben wir nach Asa gesucht.“
Das Buch, das die 25-jährige „Newsweek“-Reporterin Julia Jusik geschrieben hat, ist eine Anklage gegen die Terroristen, die sich als Freiheitskämpfer für ein unabhängiges Tschetschenien bezeichnen, dafür Frauen und Kinder als Geiseln nahmen und viele von ihnen ermordeten. Es ist auch eine Anklage gegen die Regierung Putin, die mit ihrer chaotischen Anti-Terror-Aktion viele Menschen tötete und einige der Geiselnehmer entkommen ließ.
Es ist nicht leicht, das „Wörterbuch des Schreckens“ bis zu Ende zu lesen. Die Schilderungen von zerrissenen Lebensfäden, von Blut und Tod und Trauer sind nur schwer erträglich. Doch weil es noch immer keinen offiziellen Abschlussbericht darüber gibt, was sich in Beslan Anfang September 2004 ereignet hat, ist das Buch von Julia Jusik ein Dokument für all jene, die die russische Regierung zur Wahrheit zwingen wollen. Bislang hat Moskau jeden noch so kleinen öffentlichen Protest gegen das Verschweigen im Keim erstickt.
Rezensentin: Liane von Billerbeck
Julia Jusik: „Die Schule von Beslan. Das Wörterbuch des Schreckens“,
aus dem Russischen von Helmut Ettinger, Du Mont Verlag, Köln, 180 Seiten, 19,90 Euro
Das wirkliche Ausmaß des Grauens begreift man, wenn man das Buch der jungen russischen Journalistin Julia Jusik gelesen hat. „Die Schule von Beslan. Das Wörterbuch des Schreckens“. Von A wie Augenblick bis Z wie Zorn lässt Julia Jusik die Überlebenden und Angehörigen der Getöteten von dem von Menschen gemachten Unglück erzählen, in das hunderte Beslaner Familien gestürzt wurden.
„Die Terroristen bekamen die Lage nicht unter Kontrolle und drohten die Nerven zu verlieren. Da stand ein Mann auf, hob die Hand und rief in den Saal: ‚Beruhigt euch doch, wir müssen ruhiger werden, ich bitte euch…’“
Er konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Ein Bewaffneter erschoss ihn aus nächster Nähe. Alle sehen die Ermordung: „‚Blut, Mama, das ist Blut!’ Sifa, die Mutter des zehnjährigen Schorik, beruhigt ihren Sohn. ‚Schorik, was denkst du denn, das ist Marmelade, Himbeermarmelade! Himbeermarmelade? Ich lächelte. ... Was mich dieses Lächeln gekostet hat. … Die Hölle. Himbeermarmelade.“
Mit über 50 Menschen aus Beslan hat die Autorin gesprochen. 27 Interviewpartner stimmten zu, dass ihr Name genannt werden darf. Sie erzählen, wie sie drei Tage lang, halb verrückt vor Angst und Durst, in der Turnhalle der Schule Nr. 1 gefangen gehalten wurden und wie danach in Beslan nichts mehr war wie zuvor. Manchen retten nur die Erinnerungen an sein Leben vor der Tragödie.
„Wir waren so glücklich miteinander… Herr im Himmel, wenigstens die Erinnerung kann mir niemand nehmen.“
Vielen Beslanern bleiben nur ihre toten Kinder, Frauen, Männer, Väter, Mütter. Und häufig genug haben sie nicht mal einen Leichnam, den sie in ein Grab legen können. Monatelang suchen sie nach ihren Angehörigen. Oft sind deren Körper derart verbrannt, dass nichts mehr an ihnen ist, woran sie sie erkennen können.
„Wissen Sie, wie ein gebratenes Huhn aussieht? Stellen Sie sich vor, Sie haben es bei großer Hitze angebraten und dann bei etwa 200 Grad in der Röhre schmoren lassen. So sah mein Junge aus. Das Fleisch hatte sich von den Knochen gelöst und man konnte bis auf die Knochen schauen.“
Doch selbst die Eltern, die ihr Kind beerdigen konnten, finden keine Ruhe mehr. Sie leben nur noch für das tote Kind, bringen ihm Blumen auf den Friedhof, tauschen das Sommerfoto auf dem Grabstein gegen eines mit Pullover aus, wenn es Winter wird, damit ihr Kind in der kalten Erde nicht friert.
Manche Familien in Beslan halten so ein Schicksal fast schon für Glück. „Wir wussten nicht, dass die Leichen unserer Kinder zurückgehalten wurden. Man gab sie nur in kleinen Dosen frei. Damit nicht in die Presse durchsickerte, wie viele tatsächlich verbrannt waren“, erzählen Rita und Alexander, die Eltern von Asa Gumezowa. „Am Tage legten sie die Leichen auf einem Lagerplatz aus, und am Abend kamen sie wieder zurück in die Waggons. Verkohlt, fast völlig verbrannt, gesichts- und geschlechtslos… Reste von verbranntem Fleisch. Am Tag lagen sie in Sonne und Regen, abends kamen sie wieder in den Kühlschrank zurück. Sie tauten auf und gefroren wieder. Bald waren sie voller Würmer… Drei Monate haben wir nach Asa gesucht.“
Das Buch, das die 25-jährige „Newsweek“-Reporterin Julia Jusik geschrieben hat, ist eine Anklage gegen die Terroristen, die sich als Freiheitskämpfer für ein unabhängiges Tschetschenien bezeichnen, dafür Frauen und Kinder als Geiseln nahmen und viele von ihnen ermordeten. Es ist auch eine Anklage gegen die Regierung Putin, die mit ihrer chaotischen Anti-Terror-Aktion viele Menschen tötete und einige der Geiselnehmer entkommen ließ.
Es ist nicht leicht, das „Wörterbuch des Schreckens“ bis zu Ende zu lesen. Die Schilderungen von zerrissenen Lebensfäden, von Blut und Tod und Trauer sind nur schwer erträglich. Doch weil es noch immer keinen offiziellen Abschlussbericht darüber gibt, was sich in Beslan Anfang September 2004 ereignet hat, ist das Buch von Julia Jusik ein Dokument für all jene, die die russische Regierung zur Wahrheit zwingen wollen. Bislang hat Moskau jeden noch so kleinen öffentlichen Protest gegen das Verschweigen im Keim erstickt.
Rezensentin: Liane von Billerbeck
Julia Jusik: „Die Schule von Beslan. Das Wörterbuch des Schreckens“,
aus dem Russischen von Helmut Ettinger, Du Mont Verlag, Köln, 180 Seiten, 19,90 Euro