Ein diskreter Plauderer

27.10.2008
Das neue Buch von Juri Andruchowytsch "Geheimnis" ist eine Art Autobiografie. Allerdings hat sich der ukrainische Autor einen einfallslosen Stichwortgeber geschaffen, und so wirkt das Buch oft wie ein aufgeblähtes Interview. Und ein Geheimnis wird auch nicht gelüftet.
Faszinierend verzweigte Essays, Romane voll schwindelerregender Parodien, Satiren, Farcen, Grotesken und Burlesken: Seit 2003 etablierte Juri Andruchowytsch seine ukrainische Heimat beinahe im Alleingang auf der literarischen Landkarte Westeuropas.

Mit seinem neuen Buch legt der gerade mal 48 Jahre alte Andruchowytsch bereits Memoiren vor. "Sieben Tage mit Egon Alt" heißt das Werk im Untertitel, weil sich der Autor, seiner Abneigung gegen Homestories und Porträts zum Trotz, so lange mit dem von ihm erfundenen deutschen Journalisten in Berlin unterhielt. Bevor Egon Alt, unschwer als Alter Ego zu erkennen, plötzlich auf der Autobahn stirbt, schickt er dem Autor noch sieben CDs mit dem "ganzen Schrott" zu. "Geheimnis" ist das von Andruchowytsch bearbeitete, 370 Seiten lange Gespräch.

Weitgehend chronologisch erzählt der Autor darin aus seinem Leben. Am Anfang steht eine nicht unkomplizierte Familienreise nach Prag 1968, unmittelbar vor dem Aufstand, für Ukrainer ein Vorschein des Westens. Dann verzehrt sich der dickliche Juri lange nach dem ersten Sex. Als junger Mann zieht er von Iwano Frankiwsk in das magische Lemberg, um am Polygrafischen Institut zu studieren und unter abenteuerlichen Umständen im Wohnheim zu leben.

Der Drucker wird Ehemann und Vater und übersteht die katastrophalen Verhältnisse und den rituellen Sadismus in der Roten Armee mit Brom-Vergiftung und einer Hepatitis. In der Perestroika gründet der Dichter mit Gleichgesinnten die Gruppe BuBaBu (Burleske - Balagan (Jahrmarktsbude) - Buffonade), deren "lyrischer Karneval" Hunderte von Zuhörern anzieht. Als er den Gegensatz zwischen nächtlich-dadaistischen Höhenflügen und geregelter Druckerarbeit an einer natürlich zensierten Tageszeitung nicht mehr aushält, geht Andruchowytsch nach Moskau, um am Maxim Gorki Institut literarisches Schreiben zu studieren.

Mit Erfolg, wie man weiß und bei der Lektüre von "Geheimnis" bemerkt. Wann immer Andruchowytsch länger ausholt, sind seine Schilderungen dicht und spannend. Der geliebte Vater, der Schriftsteller Mykola Rjabtschuk und viele andere werden plastisch porträtiert.

"Es geht immer nur um Ästhetik", lautet Andruchowytschs Credo, doch die Politik spielt ständig in sie hinein, ob es nun Breschnews Sarg ist, der vor den Augen aller Fernsehzuschauer im roten Imperium in die Grube kracht, oder die orangene Revolution in der Ukraine.

Die Ereignisse sind, soweit sie sich überprüfen lassen, wahrheitsgetreu dargestellt. Natürlich fehlt manches, und die eigene Familie bleibt schemenhaft. Dafür erfährt man, wie sehr Romane und Essays von der Wirklichkeit zehren: Dem Moskauer Literaturstudenten wurde wie seiner Figur Otto von F. im Roman "Moscoviada" Geld und das Flugticket in die Ukraine gestohlen - allerdings folgte er dem Dieb nicht in die Moskauer Kanalisation.

Mit Andruchowytschs Literatur also vermag sein Leben, so bewegt und farbig es auch ist, nicht mitzuhalten. "Geheimnis" hat Längen, und weil Egon Alt zudem ein recht einfallsloser Stichwortgeber ist, wirkt das Buch oft wie ein aufgeblähtes Interview.

Wie gewitzt und intelligent haben zuletzt Wolf Haas in "Das Wetter vor 15 Jahren" und Imre Kertész in "Dossier K." die Interviewform benutzt! "Geheimnis" ist geradezu naiv erzählt. Aber das dürfte kein Zufall sein. Die "Sieben Tage mit Egon Alt" sind ein literarischer (Selbst-)Schöpfungsakt. Doch er beschränkt sich auf die biografischen Voraussetzungen der Romane und Essays. Das Geheimnis seiner Kunst lüftet der diskrete Plauderer nicht.

Rezensiert von Jörg Plath

Juri Andruchowytsch: Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2008
388 Seiten, 24,80 Euro