Ein Buch in einer Welt aus Büchern

21.10.2010
Der israelische Schriftsteller Chaim Be'er - Jahrgang 1945 - ist bei uns noch immer relativ unbekannt - dabei ist gerade sein dritter Roman auf deutsch erschienen. "Bebelplatz" heißt das Buch, mit dessen hebräischer Originalfassung Be'er im Sommer eine Reisegruppe durch Berlin geführt hat.
Man könnte es so sehen wie der Ich-Erzähler: Der Roman handelt von Menschen, "die sich für drei, vier Tage am Wannsee treffen, und von den Beziehungen, die unter ihnen entstehen", und von einer der schönsten Liebesgeschichten, die er je gehört hat.

Er ist israelischer Schriftsteller, heißt Chaim Be'er, und gerade stockt sein Romanprojekt "Wörter ohne Land" trotz genialer Hauptfigur: Martin Lemberg, Antiquar, hatte nach 1945 "Buchfinder" in die europäischen Altpapierfabriken geschickt, zum Aufstöbern und Retten der Judaica aus den vernichteten Bibliotheken. Er will nun Geld und Ruhm in eine jüdische Generalbibliothek investieren. Dieser "Be'er" also - der viele Daten und Fakten mit dem realen Schriftsteller Chaim Be'er gemein hat – braucht selbst Rettung und wird von einem dubiosen Finanzhai mit einer Erstausgabe von Else Lasker-Schülers Gedichtband "Mein blaues Klavier", Jerusalem 1944, geködert und nach Berlin gelockt, zu einem mysteriösen "Gelehrtenzirkel". Im Land der Täter löst sich dann der Knoten der Wörter, aus den Fetzen und Fäden des alten Projekts entsteht "Bebelplatz". So könnte man es auch sehen.

Aber damit hätte man nicht einmal einen Bruchteil des vielschichtigen Gewebes angedeutet. "Be'er" wie Be'er, der fiktive und der reale Bücherwurm, sind Söhne des Volks der Schrift und ihrer Gelehrten, sie kennen seine Mythen und religiösen und philosophischen Traditionen. Was die Judenheit durch jahrtausendelange Wanderungen und Vernichtungsversuche "im Innersten zusammenhält", ist der in Buchstaben kristallisierte Geist. "Be'er" will nichts Geringeres schreiben als das eine, einzige Buch, das "zerbrechliche, schmerzhaft anfällige Wesen", das "uns jedes Mal in Gestalt eines anderen Buches erscheint, dort aber nur bis zu jenem schnell umschlagenden Glücksmoment verweilt, in dem es uns gelingt, es in unseren Besitz zu bringen." Und Be'er realisiert "Be'ers" Projekt, indem er es durch Berlin treibt und beständig an realen comédies und tragédies humaines reibt.

Die Stadt selbst und ihre Stätten werden die neuen Protagonisten. Der Ich-Erzähler wohnt in der Villa des Literarischen Colloquiums am Wannsee. Gegenüber liegen Schönheit und Mordlust nebeneinander, die Villa des Malers Liebermann und das Haus der Wannseekonferenz, nur ein paar S-Bahnstationen entfernt der Bahnhof Grunewald. Um die Ecke wohnt Schlomo Rappoport, dessen Vater, auch ein Antiquar, mit dem letzten Transport vom "Gleis 17" in den Tod fuhr, weil er seine Bücher nicht hatte im Stich lassen wollen. Die Bibliothek seines Sohnes ist leer - bis auf ein Buch und drei verkohlte Seiten. Leer wie die "Bibliothek" - eine Installation des zeitgenössischen Künstlers Micha Ullman – unter dem Bebelplatz, auf dem einst die Bücher brannten. Rappoport und die gojische Else-Lasker-Schüler-Forscherin Veronika Siegel sind weitere Protagonisten. Alle sind Fäden eines ungemein dichten Gewebes, zu dessen Schichten die Sprache des Talmud, die große jiddische und die neue israelische Literatur oder selbst militärischer Kerlsjargon ebenso gehören wie die Doppelexistenz zwischen "vergangenem Judentum" und "israelischer Zukunft" und die doppelte Vernichtungsangst.

Dieses anscheinend in einer Welt aus Büchern angesiedelte Buch ist nichts weniger als weltfremd, es ist - ja: beseelt. Dank der von Anne Birkenhauer sensibel übertragenen Sprache Chaim Be'ers.

Besprochen von Pieke Biermann

Chaim Be'er: Bebelplatz
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Berlin Verlag, Berlin 2010
318 Seiten, 24,90 Euro