Ein beeindruckendes Wahrheitsplädoyer

03.01.2013
Tyler Hamilton gehörte zu den größten sportlichen Helfern Lance Armstrongs bei dessen ersten drei Toursiegen 1999-2001. Wenige Jahre später wurde er wegen Dopings mehrfach gesperrt und legte 2011 ein umfassendes Geständnis ab. In seinem Buch berichtet er über das System "Doping" rund um seinen einstigen Teamchef Armstrong.
Was ist das bloß für ein komischer Haufen? Korrupt und ritterlich zugleich. Einerseits wird auf Teufel komm raus gedopt, um jeden abzuhängen; andererseits wartet man auf den schärfsten Konkurrenten, wenn der gestürzt ist. Tyler Hamilton führt uns in die verrückte Welt des Profiradsports. Über zehn Jahre war er Teil dieser verschworenen Gemeinschaft, deren Mitglieder Einstichnarben von Spritzen wie Tattoos einer geheimnisvollen Bruderschaft an den Armen trugen, aber zu den erdrückenden Dopingvorwürfen eisern schwiegen.

Tyler Hamilton hat es eines Tages einfach nicht mehr ausgehalten, dieses nervenaufreibende Doppelleben, das einem den Kopf verdreht. Für die Öffentlichkeit gab er den sauberen Sportsmann, aber wenn es an der Tür klingelte, warf er sich auf den Boden, aus Panik, von einem Kontrolleur erwischt zu werden. Die ständige Angst und die ewige Lügerei hatten ihn zermürbt. Deswegen packte er aus, stellte sich den Dopingfahndern als Kronzeuge zur Verfügung. "Die Wahrheit macht dich wirklich frei", schreibt er in seinem mitreißenden Bericht aus einer abgründigen Welt.

Zuvor schildert Hamilton beeindruckend offen, wie er geradezu zwangsläufig zum Doper wurde. Als Kind ist er manisch-depressiv. Mit ungefähr elf Jahren findet er einen Weg, den "schwarzen Ozean" zu verlassen. "Ich stellte fest, dass ich mich nur dann wohl, normal und ausgeglichen fühlte, wenn ich mein Äußerstes gab, wenn ich meine Energie zu hundert Prozent in eine anstrengende, unmöglich erscheinende Aufgabe investierte. ( ... ) Anstrengung war für mich eine Art Flucht."

Radrennen, besonders unmenschlich schwere Etappenrennen wie die Tour de France, boten ihm einen idealen Rahmen, die Krankheit mit dieser Strategie zu bekämpfen. Die Siegprämien waren zu hoch und die Strafen zu mild, um dem Erfolg nicht auch mit gefährlichen Wundermitteln nachzujagen: Testosteron, EPO, Bluttransfusionen. Verbotene Medikamente und Methoden wurden von zwielichtigen Medizinern wie Ferrari oder Fuentes so dosiert, dass sie nicht nachgewiesen werden konnten. Das betrügerische Peloton war den Ermittlern immer um Radlängen voraus. Tyler Hamilton schwört besonders auf EPO: "Man ist nicht bedröhnt, sondern fühlt sich gesund, normal, stark. Ansonsten verändert sich nichts im Körper, nur die Treibstoffzufuhr funktioniert besser. Man kann schneller fahren und länger durchhalten. Diese bislang unüberschreitbare Schwelle der äußersten Grenze deines Limits wird plötzlich einfach weggeschubst."

Und Hamilton belegt auch, dass der Weltradsportverband wenig Interesse daran hatte, den Betrug auffliegen zu lassen. Die UCI-Funktionäre wussten Bescheid, fürchteten aber, dass der Marktwert der Ware, von der auch sie sehr gut lebten, beschädigt worden wäre. Deswegen ließen sie einen wie Lance Armstrong - mit sieben Tour-Siegen lange Zeit Gallionsfigur des Radsports - selbst nach positiven Dopingtests immer wieder davonkommen.

Tyler Hamilton gibt sich geläutert. Allerdings rechnet auch er erst nach seinem Karriereende mit der kriminellen Radsportszene ab. Sein Buch ist dennoch ein beeindruckendes Wahrheitsplädoyer. Hamilton fordert einen wirklichen Neuanfang. Nur wenn nicht mehr gedopt werde, habe sein Sport eine Überlebenschance. Die jüngste Entwicklung macht Mut: Der Etappensieger von Alpe d´Huez bei der Tour 2011 wäre 2001 mit seiner Zeit Vierzigster geworden.

Besprochen von Thomas Jaedicke

Tyler Hamilton und Daniel Coyle: Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte
Übersetzt von Gabriele Burkhardt, Dagmar Mallett, Werner Roller, Sigrid Schmid
Malik 2012, 349 Seiten, Euro 19,99

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