Ein Autor mit zwei Seelen

15.03.2010
Orhan Pamuk schreibt in "Der Koffer meines Vaters" unter anderem über Alltagsgeschichten und über seine Vorbilder in der Literaturgeschichte. Dabei machen die Erzählungen deutlich: Der Autor grämt sich nicht, zwei Kulturen anzugehören und zwei Seelen zu besitzen.
Orhan Pamuks Band mit Essays, Feuilletons, Reden, Vorworten und einem Interview trägt den Untertitel "Aus dem Leben eines Schriftstellers". Trocken papieren ist er dennoch nicht. Der Literaturnobelpreisträger schreibt zwar zehn Stunden täglich, doch schreibend erschließt sich ihm die Welt. Und dem Leser von "Der Koffer meines Vaters" eröffnet sich - Pamuk.

Einige wenige, eher allgemeine politische Aufsätze enthält der Band. Der Schwerpunkt liegt auf – so sind die Kapitel benannt – "Leben", "Istanbul", "Amerika", "Lesen und Bücher", "Meine Bücher sind mein Leben" und "Bilder und Texte". Es sind naheliegende Überschriften für einen Mann, der 1952 in Istanbul geboren wurde, dort auf eine amerikanische Schule ging, in den Achtzigerjahren mit seiner damaligen Frau in New York lebte und sich mit islamischen wie westeuropäischen Bildkonzeptionen beschäftigte. Außerdem finden sich Gelegenheitszeichnungen von Pamuk neben zärtlichen Feuilletons für Zeitungen über seine Tochter.

War "Der Blick aus meinem Fenster", der erste, 2006 auf Deutsch erschienene Essayband Pamuks, geprägt durch eine unablässige und schmerzhafte Auseinandersetzung mit Europa, so wirkt das neue Buch selbstbewusster. Der Autor grämt sich nicht, zwei Kulturen anzugehören und zwei Seelen zu besitzen, eine westliche und eine östliche.

Dieselbe Gelassenheit empfiehlt er der Heimat, die durch die radikale Modernisierung und Westorientierung unter Atatürk nach 1923 von ihren osmanischen Wurzeln abgeschnitten wurde und dadurch noch heute traumatisiert ist: "Schizophrenie macht einen intelligent."

Dieses Motiv durchzieht das ganze Buch. Pamuk erzählt von dem Wettstreit mit dem älteren Bruder, von der Zuneigung zum ebenfalls schreibenden Vater, und er leitet aus der Doppelheit sogar seine Poetik ab: Der Mischung aus Osten und Westen, Tradition und Moderne verdanke er Vielfalt, Unbefangenheit und Glück.

Im ausführlichen und aufschlussreichen Interview mit der "Paris Review" am Ende des Buches verrät Pamuk nicht weniger als die "simple" Formel der Originalität: "Man verknüpfe zwei Dinge miteinander, die noch nie miteinander verknüpft wurden." Also Autobiografie und westeuropäische Bilder seiner Heimatstadt in "Istanbul", eine nostalgische Proustsche Welt mit islamischen Allegorien, Geschichten und Einfällen in "Das Schwarze Buch".

Manchmal macht es sich Pamuk allerdings zu einfach. Dass in seinem Land Allegorien die Rolle der Philosophie übernähmen, wie er meint, lässt sich auch als Selbstbeschreibung lesen: Pamuk meidet die Begriffe. Fällt ihm einmal der vom "impliziten Leser" der Rezeptionstheorie abgeleitete Begriff des impliziten Autors ein, dann ist es mit diesem Einfall auch schon getan; flugs sucht Pamuk die Abschweifung. Mancher Aufsatz trudelt förmlich aus.

Wahre Fundgruben sind jedoch die ausführlichen Artikel über die eigenen Bücher. Pamuk verrät in ihnen, warum ihn eine Idee reizte und wie sie sich bei der Arbeit veränderte, er nennt Quellen und Anregungen. Einmal beteuert er, den Zwerg aus "Das schwarze Buch" leibhaftig 1972 auf einem Markt in Beşiktaş gesehen zu haben. Nicht nur dann meint man, leise das eruptive, tiefe Gelächter Orhan Pamuks zu vernehmen.

Besprochen von Jörg Plath

Orhan Pamuk: Der Koffer meines Vaters. Aus dem Leben eines Schriftstellers
Aus dem Türkischen von Ingrid Iren und Gerhard Meier
Hanser Verlag, München/Wien 2010
342 Seiten, 24,90 Euro