„Ein Auge auf die Welt und eines nach innen gerichtet“

Von Tobias Wenzel |
Die meisten Lyriker des Poesiefestivals blieben unpolitisch. Gute Dichterinnen und Dichter halten sich aus dem Rennen der Welt raus, weil sie aus den Fugen scheint, kommentiert Festivalleiter Thomas Wohlfahrt die Entwicklung.
Sich mit Versen gegen die bürgerliche Gesellschaft auflehnen, eine bäuerlich geprägte Utopie entwerfen – das versuchte der 1975 verstorbene Italiener Pier Paolo Pasolini in seinen friulanischen Gedichten. Zwei Schauspielerinnen und Schauspieler und Regisseur Leopold von Verschuer brachten die Lyrik Pasolinis zum Abschluss des Poesiefestivals Berlin am Samstagabend in der Akademie der Künste auf die Bühne. Im Gegensatz dazu war das Festival eine Woche zuvor vor allem mit unpolitischen Gedichten eröffnet worden.

Michael Ondaatje liest das Gedicht „Der Zimtschäler“, übersetzt von Peter Torberg:

„Wäre ich ein Zimtschäler
ich würde dein Bett reiten
und gelben Rindenstaub
auf deinem Kissen hinterlassen
(...)“


Der Kanadier Michael Ondaatje ging in seinen herausragenden Versen Gerüchen und tiefen Empfindungen nach und sein Verleger Michael Krüger der Erinnerung. In dem Gedicht „Wo ich geboren wurde“ unterhalten sich Großmutter und Gott auf Sächsisch:

Michael Krüger liest aus dem Gedicht „Wo ich geboren wurde“:

„Manchmal waren sie freundlich zueinander,
dann wieder zankte sie mit ihm wie
mit dem Großvater, wenn der sein Glasauge
neben den Teller legte. Wenn man es falsch herum
einsetzt, kann man nach innen sehen,
in den Kopf hinein, wo die Gedanken leben
sagte er und stopfte seine Pfeife mit Eigenbau
(...)“


Auch die meisten anderen Lyriker des Poesiefestivals blieben unpolitisch. Einige Kritiker haben das als Manko gesehen. Festivalleiter Thomas Wohlfahrt wertet es nicht, sondern stellt als Tendenz fest:

„… dass Dichterinnen und Dichter, gute, sich aus dem Rennen der Welt raus halten, weil sie ganz einfach wirklich aus den Fugen scheint – also ich sage nur: finanzielle Krise –, und dann eher auf Dinge wieder zurückkommen, auf die man setzen kann – das ist man selber, das sind die eigenen Erfahrungen, das ist der eigene Körper, durch den ja alles durch muss, das sind Beziehungen, das sind Gefühle –, und darüber den Vers eigentlich wieder neu schärfen.“

Das trifft auch auf die türkische Dichterin Gonca Özmen zu. Am Freitag bekannte sie im Gespräch mit dem deutschen Kollegen Nico Bleutge, Dichtung verstanden als politische Rebellion oder gesellschaftliche Aufklärung sei nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen hat sie sich in ihren Versen immer wieder der Natur – für sie gleichsam eine literarische Figur – zugewandt:

Gonca Özmen: „Der Versuch, ein einzelnes Blatt eines Baumes zu verstehen, ist genauso viel wert wie ein Gedicht zu schreiben. Denn dieses einzelne Blatt ist im Laufe der Zeit Träger von so vielen Veränderungen geworden, von so vielen Einflüssen globaler Zusammenhänge, dass ein Mensch auch eine Liebesbeziehung zu einem Blatt entwickeln kann. Ein 400 Jahre alter Baum ist Zeuge zahlreicher Geschichten und Menschen, die ihn umgeben, die ihn erklettert haben. Und die Dichtung ist ein Mittel, um dieses Gedächtnis anzuzapfen.“

Ob unpolitisch oder nicht, die Veranstaltungen des diesjährigen Berliner Poesiefestivals unterschieden sich erheblich in ihrer Qualität. Das Gespräch zwischen Katharina Hacker und den israelischen Dichtern Shimon Adaf und Amir Or zum Beispiel war erschreckend uninspiriert. Und die lieblos präsentierten Fotoausstellungen in der Akademie der Künste verbreiteten Volkshochschulflair. So ragten gewisse Künstler umso deutlicher hervor. Und gerade nicht jene des Mittelmeers, die die Festivalleitung – den diesjährigen Schwerpunkt im Hinterkopf – zahlreich eingeladen hatte. Die US-amerikanische Dichterin Cole Swensen ließ zum Beispiel aufhorchen mit Versen über Geister wie dem folgenden: „denn die Toten leben anders als wir nicht allein“ (Übersetzung: Uljana Wolf). Großartig auch ihr Landsmann, der Komponist und Performer David Moss. Er erzeugte live mit seiner Stimme, einem Buch und allerhand Technik eine Atmosphäre von Melvilles „Moby Dick“ einerseits und von Kafkas Werken andererseits.

Hängenbleiben wird in den Köpfen der Zuhörer das vielleicht stärkste Bild des Festivals. Michael Krüger hat es heraufbeschworen, indem er über einen, vermutlich seinen Großvater und dessen falsch herum eingesetztes Glasauge gedichtet hat. Auch eine schöne Metapher für jene zeitgenössischen Lyriker des Festivals, die nicht mehr politisch dichten, sondern sich lieber sich selbst zuwenden:

Michael Krüger liest Gedicht „Wo ich geboren wurde“:

„Und in der Mitte mein Großvater, ein Auge auf die Welt
und eines nach innen gerichtet, vor sich ein Teller
Kartoffeln, mehlig und buttergelb, gut für Schweine
und Menschen und mich.“