Ein Abend der Brüche

Von Elisabeth Nehring · 20.05.2010
Der israelische Choreograf Hofesh Shechter ist in Großbritannien ein Star. Gerühmt für die erdig-geschmeidige, weiche, explosive, hyper-dynamische und komplexe Virtuosität seiner Bewegungssprache, wurde er allein mit zwei nicht allzu langen Produktionen innerhalb kürzester Zeit zum Kritiker- und Publikumsliebling, der große Säle füllen kann wie kein Zweiter. Hohe Erwartungen lagen auf seiner ersten abendfüllenden Produktion "Political Mother", die am 20. Mai im Dome in Brighton ihre Uraufführung erlebte.
Und Hofesh Shechter hat niemanden enttäuscht. Im Gegenteil! Die Produktion ist, zumindest in den ersten 30 Minuten so voller Überraschungen, dass man nicht nur wie durchgequirlt den Saal verlässt, sondern sich eigentlich jeder Beschreibung enthalten möchte, um keinem zukünftigen Zuschauer den Spaß zu verderben. Aber dennoch ...

Es ist ein Abend heftiger Wechsel und messerscharfer Brüche: zwischen Licht und Dunkelheit, verschiedenen Musik- und Tanzstilen und einzelnen, klar voneinander abgesetzten Tanz- und Konzertszenen. Sehr effektvoll arbeitet Shechter mit technisch aufwendigen Mitteln; ständige Auf- und Abblenden zeigen abwechselnd eine Gruppe Tänzer auf leerer Bühne oder die zweistufige Rückwand: auf der unteren Ebene aufgereiht militärisch uniformierte Trommler, ganz oben – wie die Götter und zudem dramatisch angeleuchtet – eine Rockband.

Ohrenbetäubender Lärm oder irritierende Stille, die Tänzer einzeln in kichernden Wiegeschritten, mit gen Himmel erhobenen Armen oder sich zur Gruppe, zur Kreisformation zusammenfindend, die Band mit ihrem Sänger über allen Köpfen schwebend, ganz oben eine 'Führerfigur', die Unverständliches ins Mikrofon brüllt, Zinnsoldaten, die mit ihren Trommeln Alarm schlagen – Szenen und Bilder prasseln und hämmern nur so auf das Publikum ein und dabei sind die Assoziationen an Krieg und Kriegstreiberei, an Unterwerfung und Widerstand, an Lobpreisung und Unterdrückung so offensichtlich wie kontextlos.

So zusammengesucht wie die Musik (ebenfalls Hofesh Shechter) – von Rock und Noise über beunruhigend leisen Elektrosound bis zu klassischer Musik und kitschigem Pop – so eklektizistisch erscheint auch das Bewegungsmaterial der Choreografie. Immer wiederkehrend, gleichsam als Leitmotiv erkennt man Elemente des israelischen Volkstanzes und jüdisch-religiöser Riten.

Worauf sich dieses 'politische Tanzkonzert', das einem lange nicht aus dem Kopf geht, bezieht? Wir wissen es nicht. Hitler, tanzende Gläubige, eine einheitliche Masse, die mitgeht, Kriegstreiber und widerständige Individuen – von Ferne meint man, verschränken sich hier Bilder des Dritten Reiches mit denen der Gegenwart, dem israelischen Militär, Besatzung und Besatzern. Doch kaum glaubt man, etwas erkannt, gedeutet zu haben, gibt es einen Bruch und dann den nächsten und nächsten – und schließlich bleibt einem nichts weiter, als sich in dieses wilde, schmerzhafte Spektakel mit all seiner Aufmerksamkeit und Überraschung reinsaugen zu lassen. Und anzuerkennen, wie brillant Hofesh Shechter mit dieser Zuschauerlust spielt und wie gekonnt er alle seine Mittel beherrscht.