Ein 500 Seiten langer Fluß
"Schwimmen" – der Romantitel ist Programm. Für die Ich-Erzählerin Philomena aus Kansas ist Schwimmen Lebensinhalt, Lebensform und das einzige, was sie zu können meint. Im überraschenden, grotesk überzeichneten Auftakt des großartigen Romans stellt sie sich dar als ein riesengroßes dickes Baby mit "monströsen" Füßen, die ständig nach etwas treten; als ein hyperaktives, unablässig schreiendes Kind, das seine Eltern zur Verzweiflung treibt – bis sie mit ihm zum Babyschwimmen gehen. In dem Moment hat Philomena ihr Element gefunden.
Eine Außenseiterin ist sie, ein ungeliebtes Kind zwischen ihren drei Schwestern, von denen eine mit 18 an Krebs stirbt. Die andere wird drogenabhängig, die dritte schwankt zwischen Selbstlosigkeit und Aggressivität. Die Eltern sind mit sich selbst beschäftigt. Der Vater ist als Fledermausforscher häufig unterwegs. Die Mutter lebt in ihrer eigenen Welt und verlässt irgendwann das Haus nicht mehr.
Philomena, die einzige Erfolgreiche in dieser katholischen Familie, ist dem Leben und den Verlusten der geliebten Menschen so wenig gewachsen wie die anderen. Hätte sie das Schwimmen nicht, würde sie zusammenbrechen.
Das tut sie Jahre später, kurz vor dem Ende des Romans, aber erst einmal schwimmt sie. Das verhilft ihr nicht nur aus ihrer Außenseiterinnenposition heraus und füllt ihr Leben restlos mit einem Inhalt, sondern führt sie langfristig zu Berühmtheit und olympischem Gold.
Mit Ende 20 kommt sie ans Ende ihrer Karriere, was sie so lange nicht wahrhaben möchte, bis ein Unfall sie dazu zwingt: "Ich verliere, mein Herz ist eine geballte Faust. Ich verliere, werde abgedrängt auf die Schneckenspur." Und nun setzt das große Nichts, setzt die Depression ein. Alles, was sie verdrängen konnte, bricht sich Bahn. Schließlich wird alles so gut, wie es im menschlichen Leben sein kann; sie bricht auf, wohin auch immer das Leben sie führen mag.
Obgleich er von existenziellen Dingen erzählt, ist der Roman erstaunlicherweise nicht düster. Abgründig und komisch zugleich ist Philomenas Suche nach ihrer Identität und dem Sinn des Lebens und des Todes. Die Personenschilderungen überzeugen in ihrer Lakonie und Skurrilität; die Gewöhnlichkeit und die Spleens der Menschen werden mit Prägnanz auf den häufig auch komischen Punkt gebracht. So vermasselt Philomena als Sportstar manchen Fernsehauftritt, wenn sie plötzlich im Interview merkwürdige Dinge zu plappern beginnt.
Für Gefühle findet die Erzählerin beeindruckende Bilder, in denen innen und außen für einander stehen können: "ein graues Glimmen breitet sich auf dem gigantischen grauen Gesicht des Himmels aus, der gleich darauf seine Augen öffnet, um zu weinen."
Alles wird scheinbar unmittelbar und gegenwärtig aus Philomenas Perspektive erzählt. Die Chronologie der Ereignisse wird eingehalten, aber nicht thematisiert, Sprünge und Leerstellen zeigen an, was in ihrem Leben unwichtig ist. Der Roman wirkt wie ein 500 Seiten langer Fluss. Und er bringt das Kunststück fertig, bei aller Erzählfreude und bei allem Sinn für Komik und Groteske die Schwere seiner Themen nicht herunterzuspielen.
Besprochen von Gertrud Lehnert
Nicola Keegan: Schwimmen
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Rowohlt, Reinbek 2010
478 Seiten, 19,95 Euro
Philomena, die einzige Erfolgreiche in dieser katholischen Familie, ist dem Leben und den Verlusten der geliebten Menschen so wenig gewachsen wie die anderen. Hätte sie das Schwimmen nicht, würde sie zusammenbrechen.
Das tut sie Jahre später, kurz vor dem Ende des Romans, aber erst einmal schwimmt sie. Das verhilft ihr nicht nur aus ihrer Außenseiterinnenposition heraus und füllt ihr Leben restlos mit einem Inhalt, sondern führt sie langfristig zu Berühmtheit und olympischem Gold.
Mit Ende 20 kommt sie ans Ende ihrer Karriere, was sie so lange nicht wahrhaben möchte, bis ein Unfall sie dazu zwingt: "Ich verliere, mein Herz ist eine geballte Faust. Ich verliere, werde abgedrängt auf die Schneckenspur." Und nun setzt das große Nichts, setzt die Depression ein. Alles, was sie verdrängen konnte, bricht sich Bahn. Schließlich wird alles so gut, wie es im menschlichen Leben sein kann; sie bricht auf, wohin auch immer das Leben sie führen mag.
Obgleich er von existenziellen Dingen erzählt, ist der Roman erstaunlicherweise nicht düster. Abgründig und komisch zugleich ist Philomenas Suche nach ihrer Identität und dem Sinn des Lebens und des Todes. Die Personenschilderungen überzeugen in ihrer Lakonie und Skurrilität; die Gewöhnlichkeit und die Spleens der Menschen werden mit Prägnanz auf den häufig auch komischen Punkt gebracht. So vermasselt Philomena als Sportstar manchen Fernsehauftritt, wenn sie plötzlich im Interview merkwürdige Dinge zu plappern beginnt.
Für Gefühle findet die Erzählerin beeindruckende Bilder, in denen innen und außen für einander stehen können: "ein graues Glimmen breitet sich auf dem gigantischen grauen Gesicht des Himmels aus, der gleich darauf seine Augen öffnet, um zu weinen."
Alles wird scheinbar unmittelbar und gegenwärtig aus Philomenas Perspektive erzählt. Die Chronologie der Ereignisse wird eingehalten, aber nicht thematisiert, Sprünge und Leerstellen zeigen an, was in ihrem Leben unwichtig ist. Der Roman wirkt wie ein 500 Seiten langer Fluss. Und er bringt das Kunststück fertig, bei aller Erzählfreude und bei allem Sinn für Komik und Groteske die Schwere seiner Themen nicht herunterzuspielen.
Besprochen von Gertrud Lehnert
Nicola Keegan: Schwimmen
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Rowohlt, Reinbek 2010
478 Seiten, 19,95 Euro