Eigenwillige Innenwelt

Am Ende dieses Romans beschließt der halbwüchsige Ich-Erzähler, Seminarist zu werden. Es ist eine Flucht, und es ist eine weitere Katastrophe auf dem bis dahin noch kurzen Lebensweg dieses Ich-Erzählers.
Der Leser weiß da längst, dass aus diesem jungen Mann kein Priester geworden ist, sondern ein Schriftsteller, der seine Kindheit und Jugend von der Höhe der inzwischen gewonnenen Jahre aus rekapituliert. Der zweite Handlungsstrang des Romans greift immer wieder vor in spätere Lebensphasen des Ich-Erzählers.

Die Adoleszenz des Helden ist eine Abfolge von Niederlagen und Demütigungen. Sie spielt sich ab in ärmlichen Verhältnissen der 50er-Jahre in Spanien. Elementare Bedürfnisse wie Essen und Wärme sind in der vielköpfigen Familie nur bedingt zu befriedigen. Der Schulalltag des hochsensiblen Jungen besteht aus einem kompletten Versagen, das sich aus Eskapismus, Traumwelten, Schlafsucht und Wirklichkeitsverdrängung zusammensetzt. Eine kirchliche Spezialschule für Schulversager erweist sich als sadistische Erziehungsanstalt, die Flucht ins Seminar ist der Versuch einer Selbstrettung.

Es sind genau die "weltabgewandten" Seiten dieses Ichs, die seine eigentliche Persönlichkeit ausmachen. Eine geradezu unbändige Phantasie, die die Welt in bizarren und verwunschenen Tönen widerspiegelt, wird zum beherrschenden Leitmotiv der Erzählung. Während einer Busfahrt in einen anderen Madrider Stadtteil ist sich der junge Ich-Erzähler sicher, eine vor Kurzem gestorbene Frau auf der Straße gesehen zu haben. Seine Schlussfolgerung, dies müsse jener Teil der Stadt sein, in dem die Toten "leben", wird zum Ausgangspunkt einer der einschneidenden Episoden dieses Romans.

Die Tristesse der Kindheit und Jugend, jenes Gefühl der "Weltabgewandtheit", verlängert sich bis in die Begebenheiten im Leben des reifen Mannes. Klaustrophobie, Drogenexperimente beziehungsweise -erfahrungen, psychoanalytische Séancen und Anwandlungen, die Welt in einem ganz eigenen, besonderen Licht sehen zu können, bilden den Kern jener Aufblendungen, mit denen der Ich-Erzähler sein späteres Leben zwischen den Kindheitserinnerungen skizziert.

Das zentrale Thema dieses Romans ist die Verbindung zwischen Wirklichem und Unwirklichem. Die Schichten des Individuums – hier ein konkreter Lebenslauf mit seinen äußeren Daten, da die vielfach irrationale Innenwelt einer Person – kommunizieren, geraten miteinander in Schwingungen in diesem Text. Die Deutung dieses Zusammenspiels ergibt eine Zelebration des Individuums, die ohne jede Larmoyanz auskommt, im Gegenteil: Das Aufrichten und Ausformen jener eigenwilligen Innenwelt wird in diesem großartigen Roman zum Rettungsanker in einer widrigen Welt.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Juan José Millás: Meine Straße war die Welt
Roman
Aus dem Spanischen von Peter Schwaar
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
207 Seiten, 19,95 Euro