Meinung

Zu viel Eigenverantwortung überfordert Bürgerinnen und Bürger

Eine Illustration von zwei Lautsprechern auf roten Grund
Komplexe Überlegungen sind anstrengend, sagt Neurowissenschaftlerin Franca Parianen. Deshalb: Klare Botschaften an die Menschen. © Getty Images / iStockphoto / grimgram
Ein Kommentar von Franca Parianen · 14.07.2022
Fehlt der Politik der Mut für schwierige Entscheidungen, wird gern an die Eigenverantwortung appelliert. Das kann bei Bürgern aber auch ein Gefühl der Hilflosigkeit erzeugen, meint Neurowissenschaftlerin Franca Parianen, sei es beim Energiesparen oder fair Einkaufen.
Gefühlt sind wir sehr rationale Wesen. Jede Entscheidung informiert und durchdacht. Zumindest unserem aufgeklärten Ideal nach. Entsprechend wissen wir gleich, wo das Problem mit den Entscheidungen der anderen liegt: Zu unüberlegt, zu kurzsichtig. Die Welt wäre besser, wenn sich alle an ihren Verstand hielten! So wie wir.
So einfach ist es aber nicht. Zum einen trifft unser Verstand ja nicht objektiv die besten Entscheidungen, sondern… für uns. Basierend auf unserem begrenzten Wissen, vermischt mit unseren subjektiven Bedürfnissen. Im Experiment handeln Versuchspersonen intuitiv sozialer, als wenn man ihnen Zeit gibt, ihren Verstand einzusetzen, um Ausreden zu finden.
Vor allem aber sind komplexe Überlegungen anstrengend. Deshalb hebt das Gehirn sie sich für besondere Anlässe auf. Den Großteil des Tages laufen wir in einer Art Autopilotenmodus der schweifenden Gedanken. Aus dem müssen wir uns herausreißen, um uns mal 20 Minuten auf das vor unserer Nase Liegende zu konzentrieren.

Unser Autopilot macht seinen Job ziemlich gut

Kurz bevor die Gedanken wieder abwandern, und unsere gerade noch aufmerksam geweiteten Pupillen zusammenfallen wie enttäuschte Soufflees. Auch bekannt als „Der Moment, in dem wir doch wieder zum Handy greifen“. Lange nachdenken erfordert erhebliche Motivation.
Zum Glück können wir die meisten Entscheidungen auch ohne Nachdenken treffen. Über einfache Entscheidungsmuster „Wenn es Carbonara gibt, dann nehme ich Carbonara“. Oder auch über das Bauchgefühl, das weniger mit dem Magendarmtrakt zu tun hat als mit unserer gesammelten Erfahrung.
Auch der Autopilot selbst macht seinen Job ziemlich gut und bringt Sie regelmäßig sicher zur Arbeit, ohne dass Sie sich hinterher an die Fahrstrecke groß erinnern. Gut, auch letzten Sonntag, als Sie eigentlich ganz woanders hinwollten. Aber das ist okay, im Automatikmodus tendieren wir logischerweise zu Automatismen.

Globale Probleme auf den Einzelnen abgewälzt

Nicht okay dagegen ist, permanent komplexes Denken zu erwarten. Die Politik tut das gern. Menschen sollen Strom sparen und recyceln, fair und biologisch einkaufen, diverse Fußabdrücke verkleinern und damit mehr Verantwortung übernehmen als alle anderen Marktakteure zusammen. Und das alles neben der Arbeit! „Der Markt regelt“ heißt ziemlich oft „Jutta soll das regeln“, mit ihren Entscheidungen im Supermarkt.  
Auf die Gefahr hin, dass die da gar nicht mehr rauskommt, versunken in Recherche und gefesselt von der Frage, ob Sojamilch aus der Flasche besser ist als Hafermilch in Mischplastikverpackung. Oder einfach aufgibt. Das fühlt sich zwar nicht gut an, aber der Verstand rationalisiert hilfreich, dass ein Mensch allein eh nicht das Klima schützt.

Dabei wäre Unterstützung möglich: Ein Siegel für Fairness, Ökologie und Verpackung und obendrauf ein Nutriscore in leuchtenden Farben. Sprich, Kennzeichen, zu denen wir automatisch greifen können. Preisverhältnisse, die ökologische Realitäten auch dem Bauchgefühl vermitteln. Eis im Plastikbecher sollte nicht günstiger sein als in der Waffel! Und wenn die dunkle Shampooflasche sich so viel schlechter recyceln lässt, warum steht sie dann überhaupt im Regal?

Sind praktische Lösungen überhaupt gewollt?

Menschen können intuitiv sozial entscheiden. Aber dafür muss man ihnen intuitives Handeln auch ermöglichen. Wenigstens da, wo wir auf ihre Verantwortung pochen. Stattdessen kosten Masken Geld und Solarpaneele verursachen haufenweise Papierkram. Und wenn doch mal was funktioniert, wenn Leute mit freiem Bürgertest Corona bekämpfen und mit dem 9-Euro-Ticket Staus und Benzinverbrauch minimieren, eben weil es günstig und unkompliziert ist, dann schaffen wir beides lieber schleunigst wieder ab!
Wer Eigenverantwortung will und gleichzeitig jede Regelung verhindert, schafft damit keine Freiheit, sondern Hilflosigkeit und ein schlechtes Gewissen. Vor allem sorgt er dafür, dass seine Aufforderung am Ende gar nichts erreicht… außer vielleicht, dass sich alle gefühlt schon genug angestrengt haben. Aber vielleicht war das ja auch das Ziel.

Dr. Franca Parianen, Jahrgang 1989, ist Neurowissenschaftlerin, Autorin und bringt als Science-Slammerin Wissenschaftsthemen auf die Bühnen von Theatern, Kneipen und Kongressen. Ihre Forschung, unter anderem am Max-Planck-Institut, dreht sich um das menschliche Zusammenleben auf der Ebene von Hirn und Hormonen.

Zuletzt erschienen von ihr im Rowohlt-Verlag „Hormongesteuert ist immerhin selbstbestimmt“ (2020) und „Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage“ (2017). In ihrem aktuellen Buch „Teilen und Haben“ geht es um Fairness und Verteilungsgerechtigkeit in der Krise.

Die Autorin und Neurowissenschaftlerin Franca Parianen.
© Anke Illing
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