Eigenartig, sehr eigenartig

Von Claus Stephan Rehfeld · 02.10.2009
Welches Lied auf ihr Bundesland werden die Landespolitiker und Bürger am morgigen 3. Oktober singen? Ein Loblied, das ist klar. Aber welches? Eine schlichte Frage, die es in sich hat.
Manche begannen mit einem Lacher ihre Antwort, andere leiteten sie mit einem Denkschweigen ein. Dritte wiederum glaubten sich zu erinnern, aber dann … Erstaunlich, denn einen Wettbewerb für eine Landeshymne hatte es ja mal gegeben. Sogar Sieger wurden gekürt. Vor 15 Jahren! Aber eine auf das Land singen? Ein Lied von Mecklenburgern und Vorpommern gemeinsam angestimmt? Jede Stammesgruppe ist stolz auf sich, aber mit der anderen ein Lied auf den Bindestrich singen? Nö! Also auch am morgigen Tag der Einheit nicht.

Eigenartig, sehr eigenartig. Mecklenburg-Vorpommern und seine Hymne.

"Wir sind in Fahrt, Sie hören es. Unser Boot wird Platz 2 bei der Regatta belegen. Wir wollen schnell an Land und das Siegerlied hören. Da, auf dem Bindestrichland, also in Mecklenburg-Vorpommern. Wir sind gespannt."

Am 04. Mai 2005 war es. Der neue Kommandeur der Panzerbrigade 18 der Division "Hanse" wurde feierlichst begrüßt. Mit Parade. Als die Niedersachsen paradierten, wurde das Niedersachsenlied intoniert. Als die Schleswig-Holsteiner losstiefelten, das Schleswig-Holstein-Lied. Als die Mecklenburg-Vorpommer auftraten? Ein preußischer Militärmarsch!

"Wir fassen es nicht, sind sprachlos zu nennen. Wie die Mecklenburger. Die Vorpommer wird es gefreut haben – wegen ihrer preußischen Nähe. Die Vergangenheit, Sie wissen schon."

Und die Gegenwart? Bei der Siegerehrung nachher werden sie "Es steht ein Hofbräuhaus" anstimmen. In Mecklenburg-Vorpommern! Und "Viva Colonia". Dieser Tage! Wir fassen es nicht.


Kapitel 1 - Damals. Der Wettbewerb.

"Ich habe dann aber sehr viel weggeworfen, weil ich gesagt habe: Was solls."

Das Material! Wir fassen es wieder nicht.

"Also ich schau noch mal nach."

Herr Friese, 1993 Landtags-Abgeordneter. Und: Initiator des Hymnen-Wettbewerbs!

"Wir haben das damals ja gemacht, um Identität für das Land Mecklenburg-Vorpommern stiften zu können. Wir sind ja ein sogenanntes Bindestrichland: Mecklenburg Bindestrich Vorpommern. Und wir haben gesagt: Vielleicht gelingt es uns, wieder eine Identität für das Land herzustellen mit Hilfe dieses Liedes."

Er - Herr Friese, "wir" – die SPD-Fraktion. Und damit fängt ein Teil der Probleme – davon haben sie hier viele – an: mit den Parteien.

"Und FDP und CDU haben gesagt: Die Idee ist gut, aber brauchen wir nicht, wir haben unsere Lieder schon."

Die Hymnentext-Einlieferungen von CDU-Mitgliedern waren damit aber nicht gemeint. Nun, Herr Friese fühlt sich zwischenzeitlich an den Streit zwischen Heuss und Adenauer um die Nationalhymne erinnert.

"So ähnlich ging es uns."

Bei Heuss und Adenauer kam eine Strophe raus, hier keine. Obwohl es ein Siegerlied gab! 1994.

"… da hieß es dann von der CDU-Fraktion: Ja, wenn es das Landeslied werden soll, dann müsse es ja durch den Landtag sozusagen den Segen bekommen. Und da bestand die Möglichkeit, dass der Landtag dem nicht den Segen geben würde, denn die politischen Verhältnisse waren so, dass CDU und FDP die Regierung stellten und hatten im Landtag genau eine Stimme mehr."

Die eine Stimme mehr sei die Stimme eines Nacht-und-Nebel-SPD-CDU-Überläufers gewesen, schiebt Herr Friese nach. Und obwohl am Bindestrich alle "Heimat" und "Identität" rufen. Und dann das!

"Preisträger wurde ein Mensch aus Dresden. Nun müssen sie wissen, dass es in der DDR ein besonderes Volk gab, das waren die Dresdner, die Sachsen, die waren überall. Man bezeichnete sie mitunter als die fünfte Besatzungsmacht."

Und?

"Und: Ein Sachse schreibt das Mecklenburg-Vorpommern-Lied, dies kam bei den Leuten offensichtlich nicht gut an."


Zwischenspiel 1

Die Landesfahne vor dem Schweriner Schloss tänzelt lustig zur Musik. "Otschischornja" oder so heißt die Musi, auf Deutsch "Weiß nicht". Das sagte jedenfalls der Akkordeonspieler, als wir um die Übersetzung baten.

Nun, wir wissen: Viele bekannte Lieder des Landes entstanden fern der Heimat. Nicht nur das Siegerlied des Hymnenwettbewerbs. Es kam aus Sachsen, Sie erinnern sich.

"’Wenn in stiller Stunde Träume mich umwehn …’ Das ‚Pommernlied’, die Pommern-Hymne sozusagen. Gustav Adolf Pompe brachte es … in Halle zu Papier! Und fern der Heimat, da in Halle, wurden es von zwölf Pommerschen Kommilitonen gern und‚ mit großer Lust gesungen’"."

Tja, "Was ist des Deutschen Vaterland? / ist’s Pommernland? Westfalenland?" Was es ist, wollen wir jetzt hier nicht beantworten, aber dafür: wo?! In der Ferne. Sie ahnten es schon. Der Vorpommer Ernst Moritz Arndt dichte es auf dem Weg nach Petersburg – in Ostpreußen. Die bekannte Melodie kam dem Vorpommer Gustav Reichardt bei einer Bergtour in Schlesien in den Sinn.

"Mine Heimat". Ein Fernwehlied, leider, leider, auch das bekannteste Lied. Martha Müller-Grählert, eine gebürtige Vorpommerin, verheiratet mit einem Sachsen, dichtete es in Preußen, genauer in Berlin; den – also den Text – brachte ein Flensburger nach Zürich, wo der von einem Thüringer vertont und als Lied uraufgeführt wurde – das Ostseewellenlied, weltbekannter als Nordseewellenlied.

Ja, ja, wir könnten endlos fortfahren, halten aber inne … So ist das mit der Heimat.


Kapitel 2 – Mehr als ein Bindstrich dazwischen

Dissonant - so verlief die Diskussion zum Hymnen-Wettbewerb, damals. Wir hatten Herrn Dr. Winkler darum gebeten, sie uns auf einen musikalischen Punkt zu bringen.

""Also ich weiß auch nicht, was man, wie man, was man tun sollte, um solch ein Lied …"

… auf den Bindestrich zu bringen. Aber irgendwas muss der Mecklenburg-Vorpommer doch am Tag der Landesgründung singen? Etwa das …?

"Ja, ja, die Nationalhymne singt er."

Das Deutschlandlied! Auf Mecklenburg-Vorpommern! Kein Bindstrich-Lied, so gemeinsam?

"Nee, macht er nicht. Da singt er nur ‚Einigkeit und Recht und Freiheit’"."

Eigenartig, sehr eigenartig. Da pochen sie hier auf Föderalismus und Identität … und singen ein Lied, das auf englischem Boden getextet wurde. Und die Noten wurden von Österreich abgeschrieben. Die "Heimat" – im Bindestrich-Chor stimmen dann einige das Pommernlied an und andere das Mecklenburglied. Jeder auf seine Weise.

""Ja, ja, die singen das. Aber das ist auch nicht mehr so, dass bei jedem Festakt ... Keiner kennt den Text, man kann nur noch mit, wenn man Vorsingechor hat oder entsprechende Begleitung dazu macht und Textzettel mit ausgibt, dann ist es so, dass das dann mitgesungen wird."

Jeder besingt sich selbst?

"Muss ich gestehen: ja."

Außer auf dem Fußballplatz. Da schmettern sie einträchtig und umschlungen … die Hansa-Hymne.

"Auf dem Fußballplatz versteht man sich auch mit einer Hymne, aber ein ganzes Land mit einer Hymne, das scheint doch irgendwo wohl nicht so ganz zu klappen."


Zwischenspiel 2

Es ist zugig im Hotelzimmer. Das Geräusch, so scheint uns, macht diesen Bindestrich irgendwie hörbar. (nachschiebend) Wir blättern gerade in der Gegenwart und in der Vergangenheit des Bindestrichs.

Es zieht. "De Wind hett sik dreiht" war damals, im Herbst 89, ein gern angestimmtes Lied hier oben. Die alten Farben wurden reaktiviert, den Bindestrich gab es noch nicht.

Im Januar 1990 diskutierte die CDU über einen "Landesverband Mecklenburg und Vorpommern". Im Februar demonstrierten Vorpommer für Vorpommern und die pommersche Landeskirche war, Zitat, "für die Bildung eines Landes Vorpommern … und gegen die Bildung eines Landes Mecklenburg-Vorpommern."

Im März 1990 gründete die CDU ihren "Landesverband Mecklenburg und Vorpommern", kurz darauf ersetzte sie das "und" durch den Bindestrich.

Vier Monate später beschloss die DDR-Volkskammer die Wiederherstellung der Länder von 1945, also auch von MV, die Deutsche Einheit besiegelte den Bindestrich. Die Landeshauptstadt fiel in geheimer Abstimmung an Mecklenburg; Vorpommern neigte nicht zu Schwerin.

Und Mecklenburg-Vorpommern heute, dieser Tage? Unmut ob der Kreisgebietsreform, auch weil sie alte Gebietsgliederungen nicht berücksichtigte. Wie 1993.

Und die Kanzeln sind immer noch verschieden ausgerichtet. Die katholische Kirche in Mecklenburg gehört zum Erzbistum Hamburg, die katholische Kirche Vorpommern zum Erzbistum Berlin. Links vom Bindestrich gibt es die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburg, rechts vom Bindestrich die Pommersche Evangelische Kirche.

Und wir erfuhren: In Mecklenburg können sie einen unbekannten Kandidaten für die SPD aufstellen – er wird gewählt. In Vorpommern können sie einen Unbekannten für die CDU aufstellen – wird ebenfalls gewählt.

Der Bindestrich verläuft übrigens entlang der Recknitz. Ein hübsches Flüsschen.


Kapitel 3 – Die verschwundenen Texte

Herr Doktor Wegener. Ehemaliger Chef der Landesbibliothek. Er spielt uns auf.

"Ist übrigens nie gedruckt worden, ist hier aufgeführt worden in Schwerin. Und irgendwie hat diese Oper nicht ihren Weg gemacht."

Die Oper "Johann Albrecht" vom bekanntesten mecklenburger Komponisten von Flotow. Hymnengeeignet, aber … wie die Siegertitel des Hymnen-Wettbewerbs Anno 1993/94 …

"’Gott segne Friedrich Franz und seiner Krone Glanz trübe sich nie …’ – ‚Über sein Fürstenhaus schütte das Füllhorn aus’ … Dann haben wir hier noch ‚Heil dir … jubelnd grüßen dich Mecklenburgs Gauen’."

Hymnen von damals. Weiter.

"Das ist hier jetzt gar nicht so sehr die Hymne, ich hatte gedacht, dass wir jetzt etwas zur Hymne finden. Nein."

… zum Hymnenwettbewerb.

"So, aber hier ist kein Beispiel. So … dann kann das eigentlich nur hier sein. Das ist die Ostsee-Zeitung …"

Bislang kennen wir vom Hymnenwettbwerb nur einige Texte. Lieferungen aus zweiter Hand, sozusagen. Alle winkten ab, fragten wir nach dem Originalmaterial. Einer erklärte uns und dem Telefon: "Ich hebe doch nicht alles auf." Die meisten teilten uns mit, dass sie es nicht mehr fänden. Oder meldeten sich nicht mehr.

"Also jetzt werd’ ich! Das muss doch hier irgendwie …"

Nun, aus zweiter Hand erfuhren wir immerhin, dass der Großteil der Einsendungen mehr so Zeitgedichte waren. Die Landschaft wurde beschrieben, Deutschland gefeiert, Mecklenburg-Vorpommern …

"… dann ist schon dieses Mecklenburg-Vorpommern, das erzwingt quasi schon einen Dreiviertel-Takt oder einen Sechsachtel-Takt. Betont und zwei Mal nicht betont, betont und zwei Mal nicht betont."

Ein Texter nahm sich den damaligen CDU-Ministerpräsidenten zur Brust: "Oh, Herr Seite, oh, Herr Seite, / Mecklenburg ist völlig pleite", ein anderer fasste sich kürzer: "Save Your money!"

"Gucken Sie sich das doch noch in Ruhe mal weiter an, was hier noch ist. Vielleicht stoßen Sie noch auf etwas."


Zwischenspiel 3

Was haben wir gewühlt, gesichtet und notiert. Vergessen Sie das Originalmaterialnichts, wir machen Kopien von Kopien - Hymnen-Wettbewerb 1993, Siegertitel 1994. Und wir erinnern uns derweil an manches.

Kurzes Gelächter im Telefonhörer, anhaltendes Grinsen im Vier-Augen-Gespräch, nannten wir unser Thema: Landeshymne und so? Rausreißer waren Sätze wie "Keine gute Frage." oder "Mit solchen Fragen machen Sie sich hier unbeliebt." Wir lächelten.

Mehrfach wurde uns bedeutet, die Bürger hätten damals andere Probleme gehabt als eine Hymne. Wir nickten und fragten zurück, warum dann Wappen bis zum kleinsten Ort entworfen wurden? Und ob nicht gerade dann ein verbindendes und identitätsstiftendes Lied …?

Auch sänge jeder Landesteil seine Hymne. Mecklenburglied Bindestrich Pommernhymne. Erstaunt notierten wir eine geringe Text- und Melodiesicherheit da und dort, also beiderseits des Bindestrichs.

Pommern und Mecklenburger. Als wir im Schweriner Schloss vorsprachen, wurden uns zwei Internet-Ausdrucke überreicht. Den Mecklenburglied-Ausdruck zierte ein lächelndes Gesicht, schmucklos der Pommernlied-Ausdruck. Wir grinsten und behaupteten keck, der Ausdrucker sei ein Mecklenburger! Der Überreicher nickte. Ja, ja.


Kapitel 4 – Warum nicht?!

Ach ja, und das würde eh nichts werden mit der Hymne. Und zu spät es sei es auch. Ach, was hörten wir nicht alles vor dieser Kaffeetasse.

"Und ich glaube sogar, dass das Deutschlandradio heute etwas ganz Wichtiges macht, es einfach noch mal die Frage stellt: Wenn so eine Hymne Identität ist, warum wird so eine Hymne nicht geschaffen? Und ich kann Ihnen sagen, es wird eigentlich höchste Zeit, dass wir uns vielleicht darauf einigen sollten, wann wir für uns diese Hymne schaffen."

Rainer Prachtl, CDU. Von 1990 bis 98 Landtagspräsident im Bindestrichland.

"Ich bin sehr für so etwas. Und das wir vielleicht mal schauen sollten, dass wir wirklich so eine Hymne mal haben."

Ja, damals hätten sich die Parteien "abgetastet". Und dass ’93 eine Partei, die SPD, den Vorschlag machte, nahm den politischen Gegner, die CDU, auch nicht gerade dafür ein. Landtagswahlen standen vor der Tür …

"Und ich hab gleich gesagt: Das kann so nicht gehen. Das wird Verstimmung geben, selbst wenn da ein sehr guter Text entsteht oder die Musik eine sehr schöne ist, die Komposition sehr schön ist, wird der eine sagen: ‚Naja, die Sozen haben da wieder was gemacht.’ Oder: ‚Wenn wir was machen würden.’ Das muss anders zu Wege gebracht werden."

Wurde aber nicht. Es sei damals noch nicht die Zeit gewesen, etwas Gemeinsames zu schaffen. Die Differenzen … zwischen den Parteien, zwischen den Stämmen …

"Ja, diese Befindlichkeiten gibt es. Es war so, wir … man hat natürlich darauf bestanden, dass zum Beispiel die Verfassung auch mal in Vorpommern behandelt wird. Und wir waren auf der Insel Rügen gewesen. Und da hat man uns dann in dem Schloss, wo wir waren, empfangen und wir bekamen typisch mecklenburgische Gerichte. Also wir wurden in Vorpommern auf Rügen mit mecklenburgischen Gerichten empfangen."

Aber nicht als Zeichen der Völkerverständigung …

"… die glaubten, sie seien in Mecklenburg und boten uns dann mecklenburgische Speisen an in Vorpommern! Und da ist natürlich jeder Vorpommer frustriert, ne."


Nachspiel

Wir haben Herrn Dr. Winkler gebeten, rechtshändig das Pommern-Lied und linkshändig das Mecklenburg-Lied zu spielen. Sozusagen aus zwei mach eins.

Mozart hat das auch gemacht. Sie erinnern sich: "Don Giovanni". Unterschiedliche Takte übereinander gelegt. Wie beim Blues. Gerade und ungerade Takte. Das Pommernlied ist im 3er-Metrum, das Mecklenburglied im 4er-Metrum. Irgendwann müssten die Takte sich wieder treffen.

"Nee, das wird nischt, das kriege ich nicht hin."

Wann werden sich Vorpommer und Mecklenburger hymnenmäßig treffen? Mental, musikalisch? Wir sind gespannt.

Als wir vor ein paar Tagen am Grenzweg standen, also an der alten Grenze zwischen Fischland und Darß, Schweden und Preußen, Mecklenburg und Vorpommern, da hörten wir: Ein mecklenburger Ahrenshooper sei zwei Orte rüber nach Vorpommern gezogen, bald aber wieder heimgekehrt. Die seien da doch anders, habe er gesagt. Dieser Tage!

Ach so, auch ohne Hymne schaffte die SPD damals den Sprung in die Regierung.

Und "Mine Heimat" konnten sich alle Befragten als Hymne vorstellen. Hübsch, nicht wahr? Schönes Lied … schlicht … und so ganz ohne … so unmilitärisch.