Ehre im Amt

Von Klaus-Dieter Kottnik · 02.05.2012
Wenn Gemeinden und Stadtteile zusehends verfallen, könnte das nach Einschätzung von Politikern und Wissenschaftlern dazu führen, dass Jugendliche ihre gesellschaftliche Mitwirkung verweigern. Ehrenamtliche aber würden dringend gebraucht, sagt Ex-Diakonie-Präsident Klaus-Dieter Kottnik.
Diese Zahl überrascht und ist erfreulich: Fast 40 Prozent der Deutschen über 14 Jahre verbringen Teile ihrer freien Zeit, um für andere da zu sein. Sie widersprechen so dem Bild einer Gesellschaft, die nur auf Eigennutz ausgerichtet ist.

Ältere gehen in Kindergärten und Schulen, ersetzen die Vorlesestunden, die zu Hause nicht mehr zur Verfügung stehen. Freiwillige begleiten Menschen mit Behinderungen zum Arzt, gehen mit ihnen spazieren oder laden ins Kaffeehaus ein. Seit mehr als fünfzig Jahren besuchen die "Grünen Damen und Herren" Patienten im Krankenhaus oder alte Leute im Pflegeheim. Sie kommen zum Gespräch und bringen Lesestoff mit.

Es gibt Beispiele, die mich besonders beeindrucken. Mandy, eine junge Frau aus dem Erzgebirge, selber schon in einem sozialen Beruf tätig, verbringt ihre gesamte Freizeit in einem Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, dass junge arbeitslose Menschen wieder eine Betätigung finden und dadurch zurück in den Beruf. Hausrenovierungen, Gartenarbeit, Autoreparatur – Arbeit, die jungen Männern Spaß macht, kann zu einem geregelten Tagesablauf führen, der in eine volle Berufsausbildung mündet.

Im Süden Deutschlands, im Remstal bei Stuttgart, haben ein pensionierter Lehrer und ein Arzt mit anderen zusammen die Organisation "Roter Faden" aufgebaut. Kindern und Jugendlichen wird geholfen, die deutsche Sprache zu beherrschen, eine stabile emotionale, gesunde und soziale Entwicklung zu erfahren. Auf diese Weise besuchen sie Kindergarten und Schule mit Gewinn und finden im Beruf einen sicheren Platz.

Oder ich denke an jene Erzieherin in Schwerin, die jungen Eltern freiwillig und unentgeltlich Kochkurse in ihrer Kindertagsstätte anbietet und dazu noch Großmütter als Kochlehrerinnen gewinnt, so dass die jungen Familien ein Gespür für richtige und gute Ernährung ihrer Kinder bekommen.

Viele Lehrerinnen und Lehrer haben wieder entdeckt, wie wichtig es ist, eine Verbindung zu den Elternhäusern ihrer Schülerschaft aufzubauen und halten den Kontakt, der dann auch in schwierigen Schulphasen trägt. Pfarrerinnen und Pfarrer legen mehr Wert auf Hausbesuche und nehmen ihre Verantwortung für die Menschen im Stadtteil und nicht nur in ihrer Gemeinde wahr.

Ein Staat wie der Unsere, mit einer sozialen Marktwirtschaft, ist trotz aller notwendigen und immer noch nicht ausreichenden Unterstützungen seiner Bürger auf das freiwillige Engagement der Mehrheit der Gesellschaft angewiesen. Viele in unserem Land haben das verstanden und beziehen auch ihre Befriedigung aus den vielfältigen sozialen Kontakten. Denn für andere Menschen da zu sein, ist nicht nur ein Opfer, sondern es bedeutet auch einen menschlichen Gewinn für die Helfer.

Vor allem aber profitiert die Gesellschaft von den Freiwilligen, die das Leben erleichtern und angenehmer machen. Es sollte für jeden Bürger, für jede Bürgerin selbstverständlich sein, auch Zeit für andere Menschen zu schenken. Mit diesem Geschenk macht man Freude. Aber es macht auch Freude.

Freiwilliges Engagement fällt nicht vom Himmel. Gelegenheiten müssen geschaffen werden, es einzuüben. Soziale Projekte in der Schule oder ein Sozialpraktikum bei Diakonie oder Caritas sind solche Gelegenheiten. Krankenpflege am Wochenende hat ebenso Tradition wie der Bauorden, der Bedürftigen die Wohnung erneuert.

Die Mitwirkung in einem Sportverein mit der allmählichen Übernahme von Verantwortung als Hilfstrainer mag dazu helfen, sowie der Besuch einer kirchlichen Jugendgruppe mit den Chancen, an Leitungstrainings teilzunehmen. Wer sich früh ins Engagement einübt, vergisst dies sein Leben lang nicht.

Aber auch Erwachsene während und nach der Berufsphase finden über die Freiwilligenagenturen vielfältige Möglichkeiten, sich zu engagieren. Genauso wichtig kann der regelmäßige Einkauf für die gehbehinderte Nachbarin im selben Haus sein. Diese Tätigkeit erscheint in keiner Statistik. Aber ihr gebührt die gleiche Ehre wie jedem Engagement, das anderen Menschen zugute kommt.

Klaus-Dieter Kottnik, evangelischer Pfarrer, geboren 1952 in Stuttgart, arbeitet in Berlin als Prediger, Mediator und Coach. Er berät die Polnische Diakonie und ist Mitglied verschiedener Kuratorien. Von 2007 bis 2010 war er Präsident des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland und in dieser Zeit auch Vizepräsident von Eurodiakonia. Zuvor leitete er als Vorstandsvorsitzender die "Diakonie Stetten" bei Stuttgart und war Vorsitzender des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe.
Klaus-Dieter Kottnik
Klaus-Dieter Kottnik© Anke Jacob / DW EKD