Ehre dem Amt

Von Solveig Grahl |
Filderstadt – Stadt des Ehrenamts. Die Kleinstadt vor den Toren Stuttgarts ist in Sachen Ehrenamt und Bürgerengagement ganz besonders aktiv. Der Oberbürgermeister will aus der Stadt eine Bürgerkommune machen. Er hat deshalb eigens eine Stabsstelle für Bürgerengagement eingerichtet.
„Wie viel Uhr haben wir hier unten? – Sechs Uhr halbe? Halb sechs. – Genau. Jetzt die nächste, wie viel Uhr haben wir da? – Fünf Uhr. Genau. Die nächste Uhrzeit ...“

Die Polin Marjena sitzt in einem Klassensaal der Wielandschule, nippt an ihrem türkischen Tee und beißt sich die Zähne an der deutschen Uhrzeit aus. Genauso wie die anderen drei Frauen aus China und der Türkei:

„Wann wird die Bäckerei geöffnet? – 6 Uhr bis 12 Uhr 30 Minut. – 15 Minuten bis 18 Uhr ...“

Die Alltagssprache lernen – im Gespräch mit Deutschen. Kontakte knüpfen weit weg von der Heimat, Hilfe bekommen im Alltag. „Wir trinken Tee und sprechen Deutsch“ heißt das Filderstädter Projekt, das vor neun Jahren ins Leben gerufen wurde und Ausländerinnen das Einleben in Deutschland erleichtern möchte. Während der Nachwuchs im Kindergarten oder in der Schule ist, treffen sich Filderstädterinnen wie Petra Wallner mit den Müttern aus der Türkei, Polen oder China:

„Beim Arzt, Umgang mit der Schule, ganz kleine Dinge. Schon telefonieren ist ein Kunststück. Wir versuchen, sie alltagstauglich zu machen. Einkaufen zu gehen, dass sie zum Laden gehen können, direkt was einkaufen. Einfach solche Kleinigkeiten beibringen, die doch ganz viel ausmachen. Dass die ihren Alltag meistern können in Deutschland mit der Sprache.“

Eine gute Sache, findet die Polin Marjena, die seit vier Jahren in Deutschland lebt. Ihr Mann arbeitet hier, sie kümmert sich um die beiden Kinder:

„Ich wolle ganz sprechen Deutsch. Sprechen, was ist gemacht ganzen Tag, was ist gemacht in der Urlaub, was ist passiert. Ich bin lieber kommt hier. Das ist nix mussen, das ist wollen hier.“

Das Projekt wird getragen von Filderstädterinnen, die einfach Lust haben, sich zu engagieren, freiwillig, ohne Gehaltsschein. Ehrenamtlich eben. Wir geben etwas, aber wir bekommen auch jede Menge zurück, findet Bettina Zimmermann, die schon lange mitmacht beim Projekt:

„Einmal hole ich mir ja in die Gruppe die ganze Welt. Die Türkei ist da, Polen, Italien und China. Mir persönlich macht das unheimlich Spaß, mit Frauen anderer Nationalitäten zusammen zu sein. Ich finde das auch eine große Chance, dass man Vorurteile abbaut, dass die Frauen auch selbständiger werden und nicht immer eine Hilfestellung brauchen.“

„Hallo Frau Heck, Guten Tag. Heber von ‚Rat & Tat‘. – Herzlich Willkommen. – Wir wollten ja nach ihrem Telefon schauen. – Ja, denn damit komme ich alleine nicht zurecht. Gut dass es so was gibt. – Werden wir mal schauen, nix wie ran.“

Bruno Heber ist zu Besuch bei Waltraud Heck. Die rüstige Seniorin ist neu in Filderstadt, ihre Wohnung ist zwar bereits voll eingerichtet – doch das neue tragbare Telefon ist für die Rentnerin ein Buch mit sieben Siegeln. Vor allem der Anrufbeantworter macht ihr zu schaffen. Genau der richtige Job für Bruno Heber. Der frühere Bankkaufmann ist im Ruhestand, hat Zeit und vor allem Lust, anderen zu helfen. Er engagiert sich bei „Rat & Tat“, einer Gruppe von ein paar rüstigen Rentnern: Kaputte Schubladen leimen, Türen abfeilen, helfen beim Ausfüllen von Formularen oder eben Telefone funktionstüchtig machen – „Rat & Tat“ hilft ehrenamtlich bei kleinen Problemen des Alltags:

„Da oben ist so ein kleines Tonband, sehen Sie es? Das leuchtet konstant, wenn der Anrufbeantworter eingeschaltet ist, es blinkt, wenn neue Nachrichten vorliegen. – Dann blinkt es? – Ja ...“

Bruno Heber und seine vier Kollegen werden vor allem von älteren und alleinstehenden Menschen angerufen. Dabei geht es gar nicht immer nur um die kaputte Schranktür oder das komplizierte Telefon. Manch einer freue sich auch einfach nur, mit jemandem mal ein Viertelstündchen ein Schwätzchen zu halten. Für Bruno Heber ist sein ehrenamtliches Engagement eine Selbstverständlichkeit:

„Ich sehe das, wenn die Leute sich freuen, dass man kommt und dass man ihnen was macht oder dass man mit jemandem nebenher noch ein Viertelstündchen reden können. Und dass man eben für Leute, die alleine sind und nimmer so können, was tun kann. Man sollte nicht immer fragen, was kann die Gemeinschaft für dich tun, sondern was kannst du für die Gemeinschaft tun. Heute gucken ja viele nur für sich und nicht nach anderen.“

In Filderstadt ist das nicht so. Hier gibt es viele Menschen wie Bruno Heber oder die Frauen von „Wir trinken Tee und sprechen Deutsch“. Beinahe jeder Zweite ist in der Kreisstadt vor den Toren Stuttgarts in irgendeiner Form ehrenamtlich aktiv – egal ob im Sportverein, bei den Vorlesepaten, im Naturschutz, in der Seniorenarbeit oder in Integrationsprojekten. Damit liegt Filderstadt deutlich über dem Bundesdurchschnitt von rund 30 Prozent und weit über der Engagement-Bereitschaft in Berlin, wo laut Umfragen gerade mal jeder Fünfte in einem Ehrenamt aktiv ist. Wenn man die Menschen in Filderstadt fragt, warum das so ist, überlegen sie nur kurz – dann fällt immer wieder ein Name:

„Da muss man schon sagen, dass unser Herr Bümlein da was Gutes getan hat, dass er da hinterher war.“

Herrn Bümlein kennt jeder in Filderstadt – und das wundert nicht. 24 Jahre lang war Peter Bümlein Oberbürgermeister der 44.000-Einwohner-Gemeinde, bei seiner letzten Wahl bekam er 99,7 Prozent der Stimmen. Der etwas rundliche Herr mit den lachenden Augen hat die Stadt geprägt wie kein anderer. Ein Bürger unter Bürgern wollte er sein – und war es wohl auch. Auf den Bau eines schicken großen Rathauses verzichtete der SPD-Politiker – und arbeitete zur Miete im ersten Stock der Kreissparkasse. Anfang Oktober ging Peter Bümlein in den Ruhestand. Hinterlassen hat er eine Stadt, die anders ist, die sich hervorhebt, weil sich die Menschen, die hier leben, ganz besonders engagieren und identifizieren mit ihrer Stadt. Das Geheimnis dahinter: Nur wer sich in seiner Gemeinde ernst genommen fühlt, wer mitreden darf, sich einmischen, ist auch bereit, sich ehrenamtlich einzusetzen. Davon war Peter Bümlein in seiner Amtszeit immer überzeugt. Deshalb hat der Bürgermeister im Ruhestand vor einigen Jahren den „Filderstädter Weg“ eingeschlagen. Dahinter steckt die Idee einer Stadt, in der bürgerschaftliches Engagement, Stadtverwaltung und Politik eng miteinander verzahnt sind. Eine richtige Bürgerkommune, sagt Bümlein – und zupft sich am grauen Schnurrbart. Die Menschen hier sollen nicht nur alle paar Jahre einmal ihren Stimmzettel abgeben und dann wieder nach Hause gehen – sie sollen sich wirklich einbringen können in die Gemeinde:

„Wir leben ja in einer Zeit, in der viele Menschen der klassischen Politik misstrauen oder besser gesagt: Sie finden in ihr nicht wieder oder sie finden sie gleichgültig. Es ist eine absolute Stärkung von Demokratie, wenn Leute sich selbst beteiligen, wenn sie sich einbringen, wenn sie versuchen, ihre Interessen zu vertreten. Das ist eine Förderung und eine Stärkung der Demokratie. Und ich glaube, die haben wir auf allen Ebenen ganz nötig. Unsere Grundidee ist: Nicht was wir als Stadt machen, ist wichtig, sondern wir sind sozusagen die Katalysatoren, wir sind die Moderatoren. Wir versuchen, die Menschen dazu zu bringen, ihnen Mut zu machen, ihnen Anerkennung zu geben, wenn sie sich engagieren. Das ist unsere Hauptaufgabe.“

Die Stadt entscheidet nicht mehr über die Köpfe der Bürger hinweg, sondern mit ihnen gemeinsam. Das ist ein wesentliches Element des „Filderstädter Wegs“. Mitdenken, mitreden, mitmachen heißt das Motto. Bürger setzen sich beispielsweise direkt mit dem Gemeinderat an einen Tisch. Sie bringen dort ihre Ideen für die Stadt ein, reden über ihre Sorgen und Hoffnungen, diskutieren mit. Nicht alle in Verwaltung und Politik waren sofort begeistert von diesem Mehr an Bürgerbeteiligung, erinnert sich Peter Bümlein. Da mussten dicke Bretter gebohrt werden:

„Sie müssen bedenken, in jeder Stadtverwaltung, auch bei uns, gibt es Mitarbeiter, die sagen, wir haben weiß Gott genug zu tun und auch noch diese neumodische Zeugs, da haben wir nur Ärger. Sie können nicht davon ausgehen, dass wenn es ernst wird, dass dann alle Menschen begeistert sagen: Oh ja, endlich gibt es Bürgerbeteiligung.“

Doch die Kommune ist auf einem guten Weg. Seit sieben Jahren gibt es in Filderstadt ein eigenes Referat für Bürgerbeteiligung, angesiedelt direkt beim Oberbürgermeister. Es ist eine Anlauf- und Beratungsstelle für alle, die sich engagieren wollen, ob politisch oder eher im sozialen Bereich. Eigens für die Zusammenarbeit von Bürgern, Stadtverwaltung und Gemeinderäten wurde ein Leitfaden entwickelt. Es gibt Schulungen für Mitarbeiter der Verwaltung, was Fragen der Bürgerbeteiligung angeht. Und Mentorentrainings für Bürger, die sich engagieren wollen, sagt Thomas Haigis vom Referat für Bürgerbeteiligung:

„Das geht komplett weg von der Obrigkeitshaltung. Die Verwaltung ist natürlich Dienstleister. Wir haben ja auch viele Fachleute auf der einen Seite, aber in der Bürgerschaft gibt es genauso Fachleute. Und diese zusammen zu bringen, das ist die Kunst und die neue Qualität. Da haben wir einen Quantensprung im kommunalen Auseinandersetzen miteinander umgesetzt.“

Dazu gehört auch, dass die Bürger mitmachen können bei bestimmten kommunalen Projekten, von der Planung besserer Verkehrswege über die Entwicklung neuer Wohngebiete bis hin zur Spielplatzgestaltung, erklärt Peter Bümlein:

„Da waren Bürgerinnen und Bürger dabei, da war unser Tiefbauamt dabei. Die haben sich zusammengesetzt und haben ein Konzept erarbeitet, wie sollen Spielplätze ausschauen und nachher auch bei der Umsetzung Gespräche geführt, mit Nachbarn, mit Beteiligten. Natürlich kostet das viel Zeit, aber meine Lebenserfahrung sagt mir: Man gewinnt nicht viel, wenn man die Bürger nicht beteiligt. Wenn die Menschen das Gefühl haben, man macht Dinge, die sie gar nicht wollen, dann haben Sie erst recht hinterher Zeitverlust und Ärger.“

Die Filderstädter Jugendfarm, draußen auf den Feldern vor der Stadt. Ronja, Karo und Franziska misten die Pferdeställe aus und kehren, was das Zeug hält. Kaum sind sie fertig, geht es zur „Pferdebesprechung“:

„Wer will die Leika putzen? Larissa. Wer will den Asterix putzen? ...“

Dass es die Jugendfarm überhaupt gibt, verdankt Filderstadt engagierten Eltern, die vor Jahren verzweifelt auf der Suche waren nach einem Grundstück für einen Abenteuerspielplatz. Auf dem Gelände eines früheren Aussiedlerhofes gibt es ihn heute, diesen Spielplatz – und noch viel mehr. Hühner laufen herum, in den Ställen wiehern Pferde. Es gibt einen Hüttenbauplatz, eine Holz- und Fahrradwerkstatt, eine Töpferstube, einen Billardtisch und eine gemütliche Küche. Platz genug für Kinder und Jugendliche zum Toben, Spielen, Basteln. Die Stadt stellte damals das Material zur Verfügung, umgebaut haben den alten Bauernhof Eltern, alles ehrenamtlich, in rund 3000 Stunden. Heute kümmern sich Ehrenamtliche um die Verwaltung der Gelder, halten den Kontakt zum Gemeinderat, packen auch mal auf dem Platz mit an.

Auf der Farm arbeiten drei fest angestellte Sozialpädagogen. Sie betreuen die Kinder, bieten Aktionen, Ausritte, Klettertouren. Die Jugendlichen im Gegenzug kümmern sich um die Tiere auf der Farm, auch am Wochenende – und lernen so ganz nebenbei, sich ehrenamtlich zu engagieren, sagt Klaus Schock, einer der Sozialpädagogen:

„Das machen Kinder in Gruppen selbständig. Und das machen die zunächst natürlich nicht, weil sie denken: Hey, das ist ein tolles soziales Engagement, sondern die machen es, weil klar, das sind unsere lieben Pferde und die brauchen was zum Fressen. Aber sie lernen über diese Aktivität, das zu tun.“

So wie Karo, Ronja und Franziska. Für die Mädchen ist es selbstverständlich, sich um die Tiere auf der Farm zu kümmern – ohne dafür Geld für den nächsten Kinobesuch oder die neue Jeans einzustecken. Sie machen es einfach so, weil es ihnen Spaß macht. Franziska arbeitet erst seit kurzer Zeit ehrenamtlich – und kommt fast jeden Tag vorbei.

„Jetzt gebe ich selbst Longe oder wenn jetzt Kinder Hilfe beim Ponys putzen brauchen. Oder wenn jetzt zu wenig Betreuer da sind, dann helfen wir, wenn sie uns bitten, helft bitte beim Misten oder könnt Ihr mal Nägel tauschen, Billardsachen rausgeben, das machen wir auch. Ich habe hier halt Freunde gefunden, richtige. Und hier kann man wirklich abschalten von der Schule.“

Das ehrenamtliche Engagement der Filderstädter geht quer durch alle Altersgruppen, vom Rentner über den Berufstätigen bis hin zu den Schülern – und sei auf jeden Fall ein großes Verdienst der Stadtverwaltung, glaubt Sozialpädagoge Klaus Schock:

„Wenn es ein ehrenamtliches Engagement gibt, auch wenn das nur aufflammt irgendwo, das dann sofort aufzugreifen und zu unterstützen. Und nicht versucht, dass wegzuschieben auf die lange Bank, in irgendwelche Planungssitzungen zu schieben, in der Hoffnung, dann schläft es vielleicht ein und kostet dann kein Geld. Sondern zu sagen: okay, wenn es Bürger gibt, die bestimmte Interessen haben, dann versuchen wir die auch mit Geld zu unterstützen.“

Das war auch der Eindruck von Gabriele Dönig-Poppensieker, als sie zum ersten Mal nach Filderstadt kam. Die 48-jährige gebürtige Bochumerin ist seit dem 3.Oktober die neue Oberbürgermeisterin der Stadt. Gleich bei ihrem ersten Besuch in Filderstadt hätten die Einheimischen ihr stolz die schönsten Plätze gezeigt und seien richtig neugierig gewesen auf ihre möglicherweise nächste Bürgermeisterin. Besonders deutlich jedoch wurde das Engagement der Bürger für ihre Stadt im Wahlkampf der drei Kandidaten, erinnert sich Gabriele Dönig-Poopensieker:

„Wir beklagen bundesweit und landesweit die abnehmende Wahlbeteiligung, das abnehmende Interesse an Politik und am gesellschaftlichen Leben. Und ich beobachte hier in der Stadt genau das Gegenteil. Als wir drei Kandidaten uns vorgestellt haben in der Philharmonie, da waren 1200 Leute da. Das finde ich ausnehmend viel. Und wer ein ganz intensives Interesse am Wahlkampf hatte, das waren die Kinder. Die Kinder waren so engagiert, dass sie so schmutzig wie sie waren, als sie von der Jugendfarm kamen, schnell in die Philharmonie gekommen sind und geguckt haben, ob sie mit mir noch ein Foto kriegen. Das finde ich außergewöhnlich.“

Außergewöhnlich ja – doch dieses frühe politische Interesse hat seinen Grund. Vor 20 Jahren wurde in Filderstadt der Jugendgemeinderat ins Leben gerufen – damals die erste direkt gewählte Jugendvertretung Deutschlands – und heute ein wichtiger Bestandteil der Bürgerkommune Filderstadt. Längst ist diese schwäbische Erfindung zum Exportschlager geworden. Viele Kommunen in der Republik haben das Konzept übernommen.

Caroline: „Ich finde, das ist einfach grob unkomfortabel, wenn man über eine Stunde da hinfahren muss und dann auch noch so einen Umweg über Nürtingen nehmen muss.“
Bümlein: „Das heißt, wie seht ihr das jetzt? Ihr seid ja ein Gremium aus verschiedenen Köpfen, Menschen, Ohren und so weiter. Da wäre es schon wichtig, wie seht ihr das?“

Das Jugend- und Kulturzentrum „Z“ in Filderstadt. Der Jugendgemeinderat tagt – zum letzten Mal unter der Leitung von Oberbürgermeister Peter Bümlein. Es geht um eine neue Buslinie, die die Stadt mit einem Badesee verbinden soll. Welche Strecke soll der Bus fahren? Ab wann könnte er zum Einsatz kommen? Soll die Fahrt etwas kosten? Die Jugendlichen diskutieren miteinander, argumentieren sachlich. Am Ende sind sich die 20 vom Jugendgemeinderat einig und stimmen ab – für die neue Buslinie. Oberbürgermeister Bümlein nimmt die Entscheidung mit in den Gemeinderat der Stadt. Ein Auftrag der Jugendlichen an die Kommunalpolitiker, sagt die 18-jährige Caroline:

„Unsere Zusammenarbeit mit dem Gemeinderat funktioniert sehr gut, wir werden da sehr ernst genommen. Wir treffen uns zum Beispiel auch mit dem Leiter vom Tiefbauamt und solche Sachen. Da wird genau erklärt, warum was nicht geht. Es heißt niemals: „Das geht nicht.“ und es kommt keine Begründung dazu. Ich finde es einfach interessant, auch was zu bewegen. Man sieht auch kleinere Erfolge, auch größere Erfolge, einfach Filderstadt so zu formen wie man das auch selbst möchte.“

Wählen lassen können sich alle 14- bis 18-Jährigen aus Filderstadt. Die Kandidaten stellen sich im Amtsblatt vor, mit ihren Interessen und ihren Ideen, was sie für Kinder und Jugendliche in der Stadt tun und verändern möchten. Alle paar Wochen tagen die Jugendlichen. Es geht um neue Radwege, Spielstraßen oder den Wiederaufbau der Skateranlage. Und die Erfolge können sich sehen lassen: Auf die Initiative des Jugendgemeinderats hin wurde der Fahrpreis für das Nachttaxi gesenkt, ein Bachvolleyballfeld eingerichtet und eine Drogenberatungsstelle auf den Fildern eröffnet.

Für Städte und Gemeinden ist ehrenamtliches Engagement längst unverzichtbar geworden. Gerade im sozialen Bereich wäre vieles nicht möglich ohne den freiwilligen Einsatz der Bürger. Sie können und sollten nicht Fachkräfte wie Lehrer oder Pflegepersonal ersetzen. Aber sie ergänzen deren Arbeit. So wie die Frauen von der Hospiz- und Sitzwachengruppe in Filderstadt. Sie tragen einen Teil ihrer Zeit und Kraft in Alten- und Pflegeheime, in Hospize und zu Menschen nach Hause. Sie begleiten Schwerkranke und Sterbende, reden mit ihnen, halten Hände, streicheln, sind für die Angehörigen Gesprächspartner, trösten. Geld nehmen auch sie dafür nicht. Wir sind einfach da, weil wir es wichtig finden, sagt Helga Schroter, Pfarrerin im Ruhestand und Gründerin der Gruppe:

„Wir müssen nicht auf die Uhr gucken. Wir haben keine bestimmte Handlung vorzunehmen. Wir können fragen: Möchten Sie, dass ich am Bett sitze. Da müssen wir auf die Mimik achten, wie sie reagieren. Einfach da sitzen, die Zeit haben. Jemand eine Weile in den Arm nehmen können.“

Auch nachts kommen die Frauen von der Hospiz- und Sitzwachengruppe. Dann wechseln sie sich eben ab. Pflegekräfte in Heimen und Krankenhäusern könnten eine solch enge, persönliche Betreuung unmöglich leisten, sagt Sigrid Fechter, die schon lange dabei ist:

„Wir sind ja ohne Zeitlimit. Wenn es sein muss, machen wir das in drei, vier Ablösungen in der Nacht, das kann eine ganz normale Familie nicht lange bezahlen. Die Leute sind so dankbar, wenn man kommt. Das kann eine bezahlte Kraft nicht leisten.“

Das ehrenamtliche Engagement der Filderstädter hat bundesweit bereits Früchte getragen. Im März reiste der damalige Oberbürgermeister Peter Bümlein nach Berlin, gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern seiner Stadt. Der Grund: Filderstadt hatte den Bundespreis für Integration gewonnen. Damit wurden verschiedene Projekte der Gemeinde ausgezeichnet, die sich für die Integration von Migranten einsetzen, darunter auch „Wir trinken Tee und sprechen Deutsch“:

„Wir waren ja in Berlin mit Frauen und Männern, die sich da eingebracht haben. Das heißt, nicht wir als Stadtverwaltung haben diesen Preis nur entgegengenommen, sondern alle, die sich hier mit einbringen. Das ist auch wichtig. Bürgerengagement lebt auch ein bisschen davon, dass es eine Anerkennung gibt. Weil auch für die Bürgerinnen und Bürger ist das nicht immer ganz einfach. Uns geht es allen besser, wenn wir Anerkennung kriegen. Und auch der Stadt Filderstadt ging es dadurch besser.“

Sind die Filderstädter nun bessere Menschen als die Bürger anderswo? Wohl kaum. Aber sie haben das große Glück, in einer Gemeinde zu leben, die ihr Engagement ernst nimmt, anerkennt und fördert. „Mitdenken, mitreden, mitmachen“ – dieses Motto hat sich die schwäbische Stadt auf die Fahnen geschrieben. Wir sind heute schon viel weiter als vor fünf Jahren, sagt Peter Bümlein. Zu Ende sei der „Filderstädter Weg“ aber noch lange nicht:

„Es ist so eine Art Kompass, der uns dazu führt, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Und ich hoffe, dass dies nicht aufhört, sondern weitergeht. Es ist wie immer im Leben: Man muss wissen, in welche Richtung man gehen will, wie weit man geht, das liegt nicht nur an einem selbst.“

Die Richtung ist die richtige, sagt auch Bümleins Nachfolgerin Gabriele Dönig-Poppensieker. Den eingeschlagenen Weg will sie nun weitergehen und weiter arbeiten an der schwäbischen Bürgerkommune:

„Die Menschen scheinen sich hier sehr wohlzufühlen. Denn nur wenn man sich wohlfühlt in seiner Stadt, dann macht man das auch. Sie fühlen sich wohl, deshalb engagieren sie sich. Und weil sie sich engagieren, fühlen sie sich wieder wohl. Denn sonst könnte das hier nicht funktionieren, wie es ist.“