Eher nehmen denn geben

Von Marc Thörner · 06.12.2011
Nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen soll Afghanistan 2014 politisch, gesellschaftlich und in Sicherheitsfragen auf eigenen Beinen stehen. Ein Vorhaben, das angesichts der derzeitigen Lage dort ausgesprochen ehrgeizig ist. Statt der offiziellen Polizei sorgen schlecht bezahlte und kaum ausgebildete Milizen für Ordnung.
Verschlafene einstöckige Lehmhäuschen. Auf der Schotterpiste: Eselreiter und Kamele. Zwischen einzelnen Ansiedlungen von drei oder vier Gehöften immer wieder Felder. Kleine Parzellen für Getreide, Obst oder Gemüse, unterteilt durch Bewässerungskanäle. Der Schardarâh-Distrikt von Kundus beginnt dort, wo die eigentliche Stadt in eine Vorstadt übergeht. Hier sieht es so aus, als sei die Zeit stehen geblieben - tiefer Friede scheint zu herrschen. Ein Eindruck, der sich rasch als trügerisch erweist.

"Wenn ich diesen Kommandeur Nawid finde, sperre ich ihn ein. Dieser Gangster! Er hat Zivilisten umgebracht! Drei Männer in einer einzigen Sekunde, als sie gerade beim Friseur saßen."

Nur Mohammed leitet die hiesige Kriminalpolizei, ein glattrasierter, ebenso hochgewachsener wie korpulenter Mann Anfang 50, einer mit richtiger Polizeiausbildung, wie er betont. Ein Profi, der, wie er betont, in den 1980er-Jahren noch die sowjetisch geprägte Polizeiausbildung durchlaufen hat - ein echter Kommissar, mit allem was dazu gehört. Sein Traum ist, Kommandant Nawid zu fangen, den größten Gangster der Region.

Wenn er wie jetzt durch Schardarâh fährt, hält er immer wieder nach dem Schwerverbrecher Ausschau. Eines wurmt den Ermittler ganz besonders:

"Ich hätte ihn längst verhaften können. Aber das war unmöglich, weil er unserem Polizeichef persönlich unterstellt war. Ob Sie es glauben oder nicht - Nawid war der wichtigste Kommandeur der ALP, der afghanischen Lokalpolizei, in dieser Gegend."'"

Der Schardarâh-Distrikt von Kundus ist eine Art ethnischer Enklave. Während, wie auch in den anderen Provinzen des Nordens, überall Tadschiken und Usbeken dominieren, wohnen hier mehrheitlich Paschtunen. Nicht zufällig war die Gegend bis vor kurzem Hochburg der, ebenfalls mehrheitlich paschtunischen, Taliban. Hier durchzufahren, erzählt Nur Mohammed, wäre vor fünf, sechs Monaten noch Selbstmord gewesen. Dass die Lage sich beruhigt hat, räumt Nur Mohammed zähneknirschend ein, sei ausgerechnet Kommandant Nawid zu danken - dem von ihm gesuchten Killer. Nawid habe Schardarâh von Taliban gesäubert.

""Der Polizeichef von Kundus benutzte ihn damit er an seiner Stelle gegen die Taliban kämpft. Aber ob es gegen Aufständische oder Zivilisten geht, das war Nawid egal. Er ist von Natur aus ein Killer. Er tötet für jeden, der ihm dafür Geld gibt."

Nawids Gönner, der Polizeichef von Kundus, fiel im Frühjahr einem Anschlag zum Opfer. Danach, sagt Nur Mohammed, habe es sein Untergebener Nawid vorgezogen, spurlos zu verschwinden - wegen der Blutrache, die ihm von den Familien seiner Opfer droht. Ohne Schutz von oben ist damit nicht zu spaßen.

Gangster als Ordnungshüter - möglich ist das, seitdem die US-Regierung in Afghanistan das Programm der Afghan Local Police, der afghanischen Lokalpolizei, aufgelegt hat. Nach dem Vorbild sunnitischer Stammesmilizen im Irak, finanziert die US-Armee seit 2009 auch in Afghanistan Milizen lokaler Anführer, die als Hilfspolizeichefs fungieren. Colonel Greg Julian, Sprecher der US-Streitkräfte in Afghanistan:

"Es gibt viele Lehren, die sich aus unserer Erfahrung im Irak auf Afghanistan übertragen lassen. Es gibt da eine Menge Ähnlichkeiten. Die Doktrin der Aufstandsbekämpfung lässt sich ja ziemlich universell anwenden. Natürlich mit einzelnen kleinen Abweichungen von einer gesellschaftlichen Gruppe zur anderen. Einer der Aspekte, die sich gut auf Afghanistan übertragen lassen, ist das Programm, eine lokal verwurzelte Schutztruppe zu bilden, mit der die Einwohner die Sicherheit ihrer eigenen Gouverneure und Einrichtungen gewährleisten."

Bei den Anführern dieser Verbände handelt es sich meist um Kämpfer aus dem afghanischen Bürgerkrieg der 1990er-Jahre. Doch Uniformen, neue Embleme, eine kurze Ausbildung und wohlklingende Bezeichnungen wie Local Police geben ihnen und ihren Männern den Anschein seriöser Beamter. Die Bezeichnung Miliz wird wohlweislich vermieden. Denn das Wort ruft bei Afghanen unliebsame Erinnerungen an die Zeit des Bürgerkriegs wach. Deshalb gibt es immer neue Abkürzungen für die irregulären Kräfte: Neben der ALP, der Afghan Local Police, die so genannten CIP-Guards seit dem Frühjahr 2011 in und um Kundus - CIP steht für Critical Infrastructure Project und klingt noch ziviler als Polizei.

Die unausgebildeten Freiwilligen dieser neuen Formation stehen überall in Schardarâh mit Kalaschnikows im Anschlag an Kontrollpunkten. Sie tragen keine militärischen Monturen, sondern zu ihren Pluderhosen und randlosen Kappen lediglich gelbe Armbinden. Aus Sicht der Bundeswehr eine willkommene Unterstützung. Oberstleutnant Jürgen Fischer, Pressesprecher im deutschen Feldlager von Kundus:

"Alle CIP-Kräfte, die wir hier eingestellt haben, die wurden durch ISAF registriert. Die kümmern sich um ihre eigenen Dörfer und schützen ihre eigenen Dörfer und ihre Infrastruktur, dadurch, dass sie auf den Straßen und in so genannten COPs, kleinen Festungen, die wir gemeinsam mit ihnen dort bauen, präsent sind und die Kontrolle ausüben. Es gibt im Moment für uns keine Alternative möglichst schnell möglichst viele Sicherheitskräfte hier in den Raum zu bekommen."

Offizielles Mandat der ISAF, der von der UNO beauftragten Afghanistan-Schutztruppe, ist es, nicht Privatarmeen einzelner afghanischer Kommandanten auszubilden, sondern die regulären Sicherheitskräfte zu stärken. Auf Anfrage betonen deshalb sowohl Einsatzführungskommando wie auch Bundesverteidigungsministerium immer wieder, dass Deutschland ausschließlich mit regulären afghanischen Sicherheitskräften zusammenarbeite, also mit afghanischer Armee und Polizei.

Im Gespräch mit Bundeswehroffizieren vor Ort sieht das allerdings ganz anders aus. Die Bundeswehr, so Oberstleutnant Fischer, leiste einen aktiven Beitrag, um die Arbeit der neuen CIP-Guards zu optimieren.

"Selbstverständlich sind wir als Deutsche dabei, weil wir auch dafür gesorgt haben, dass diese Registrierung vorgenommen wurde. Der PRT-Kommandeur hier in Kundus hat das zu seinem Schwerpunkt erklärt. Vollkommen richtig, denn die Erfolge geben uns auch recht, es ist deutlich ruhiger geworden und die Implementierung dieser Guards und dieser Bürgerwehren hat schon dafür gesorgt, dass das Gefühl von Sicherheit sich in der Bevölkerung gesteigert hat."

Viele in Schardarâh sehen das ganz anders. Wie der Bauer Naqibullah, der sich allmorgendlich auf den Weg macht, um auf einem der Felder zu arbeiten. Ein hartes Brot. Die Technik ist vorsintflutlich. Das wenige zur Verfügung stehende Wasser soll durch Rinnen in der Lehmerde zu den einzelnen Parzellen fließen, in denen er Obst und Gemüse anbaut. Doch durch die Sonne verdunstet stets ein Gutteil. Und wenn er die karge Ernte zum Markt bringt, erzählt er, erscheinen die Hilfspolizisten, die von der Local Police oder der CIP.

"Wir haben unter zwei Sorten von Hilfspolizisten zu leiden, der Afghanischen Lokalpolizei und der CIP. Die CIP-Guards mit den gelben Armbinden sind die schlimmsten. Die halten Menschen auf der Straße an und stehlen ihnen das Geld aus der Tasche. Wenn man mit einer Fuhre von Melonen oder mit Wassermelonen unterwegs ist, stoppen sie einen an und nehmen sich die Hälfte von der Ladung weg. Außerdem streifen nachts durch Schardarâh, greifen sich Kühe aus den Ställen und verschwinden mit ihnen. Das sind Arbeitslose, die nie etwas Richtiges gelernt haben. Aber unsere Gouverneure arbeiten leider mit ihnen zusammen."

Wer genau sind diese Männer mit den gelben Armbinden? Kriminalist Nur Mohammed kennt einen ihrer wichtigsten Anführer. Nach einer kurzen telefonischen Verabredung, fährt er zu einem Checkpoint am Ortseingang von Schardarâh.

Kommandant Mohammed, ein etwa 50-jähriger, kleingewachsener Mann mit langem graumeliertem Bart steigt ein. Was hat ihn bewogen, sich zu den CIP-Guards zu melden?

"In dieser Gegend gibt es sonst nichts zu verdienen. Das Land wirft nichts ab. Im Fluss ist kein Wasser. Wir können nichts anbauen, sondern leben seit langem von geborgtem Geld. Vor anderthalb Monaten bin ich bei den CIP-Guards eingetreten. Ich hoffe, dass ich von denen endlich einen Sold erhalte. Vorher war ich bei der ALP, der afghanischen Lokalpolizei. Während dieser Zeit hat uns niemand auch nur einen Pfennig bezahlt. Für uns Kommandanten war das eine sehr schwere Zeit."

Der lokale Posten der CIP liegt auf einer Anhöhe, von der aus die Straße durch den Distrikt gut zu überblicken ist. Ein Geviert aus Hesko-Wällen, dicken Sandbehältern, wie sie die Bundeswehr auch zum Schutz ihrer eigenen Lager verwendet.

Kommandeur Mohammed stellt seine Kollegen vor: drei andere Anführer in ähnlichem Alter. Genau wie er haben sie im afghanischen Bürgerkrieg auf Seiten der tadschikischen Jamiat Islami gegen die Paschtunen gekämpft. Da auch die Taliban Paschtunen sind, führen sie nun ihren Feldzug nahtlos weiter. Jeder der vier Hilfssheriffs befehligt etwa 20 Männer. Konnten sie schon Erfolge erzielen, etwa wichtige Taliban-Anführer verhaften?

Ja, sagen sie. Einen Talibanchef namens Habib und einen anderen, der Achtar heißt. Die beiden hätten ihre Waffen abgegeben und seien anschließend in den Iran gegangen. Dann geht es zunächst wieder um das Thema Geld.

Während einer von ihnen erklärt, er finanziere sich und seine ihm unterstellten Wachen bis jetzt aus eigener Tasche, will ein anderer nur einen Monat lang bezahlt worden sein. Von den hier stationierten Deutschen, wie er sagt - offensichtlich in Unkenntnis darüber, dass es sich bei der Bürgerwehr um ein amerikanisches Programm handelt. Einig sind sich alle allerdings darüber, dass auch die rund 150 Dollar, die sie monatlich erhalten müssten, in keinem Fall reichen würden, um ihre Familien zu ernähren und ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

"Ich war auf meinem Acker bei der Feldarbeit. Ich trug lange Haare und darüber eine Mütze. Ja, manche Taliban sehen so ähnlich wie ich aus. Ein paar CIP-Guards haben mich festgenommen und mich zu ihrem Kommandeur geführt. Zuerst hat er mir mein Handy weggenommen. Dann hat er mich verhört. Anschließend wurden meine Hände und meine Füße gefesselt und ich wurde in einem Wagen weggefahren und ins Gefängnis gesteckt. Ich bin nur deshalb freigekommen, weil jemand aus meiner Verwandtschaft den CIP-Kommandeur persönlich kennt. Aber mein Handy habe ich bis heute nicht zurückbekommen, das hat er behalten."

Die UNO ist Auftraggeber der Afghanistan-Schutztruppe ISAF. Staffan de Mistura, der hohe UN-Repräsentant in Kabul, beobachtet seit einiger Zeit, dass die Militärs sich mehr und mehr von ihrem Auftrag weg bewegen und in eine rein militärische Logik abdriften. Die neuen Hilfsmilizen entsprechen aus seiner Sicht eindeutig nicht dem, was die ISAF in Afghanistan aufbauen soll.

"Wenn Sie das Programm von einem rein militärischen Standpunkt aus betrachten, mag es positiv aussehen. Menschenrechtlich gesehen ist es besorgniserregend. Die Bevölkerung ist ohne Zweifel nicht glücklich damit. Viele befürchten, dass eine derart Milizen ähnliche Struktur anstelle des Zentralstaats die Macht an sich ziehen könnte. Außerdem stellen die Menschen fest, dass dieses Programm der Bestechung und der Korruption Tür und Tor öffnet."

Und noch eine weitere Gefahr droht durch die Afghanische Lokalpolizei und die CIP-Guards, meint der ausgebildete Kriminalpolizist Nur Mohammed. Als alte Kämpen aus dem Bürgerkrieg benutzten deren Kommandeure ihre neue Macht, um heute weiter ihre Feinde von damals zu bekriegen - genau wie es bis vor kurzem Kommandant Nawid tat:

"Er hat drei Männer in einem Friseursalon ganz einfach deshalb abgeknallt, weil sie Paschtunen waren. Nawid selber ist Tadschike. Deshalb beanspruchte er die Führung hier. Die drei Paschtunen sah er als Konkurrenten. Tadschiken, Paschtunen, diese Konflikte haben Afghanistan kaputt gemacht."

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