Ehemaliges Konzentrationslager

Theresienstadt sucht eine neue Identität

Hinweisschilder in der böhmischen Kleinstadt Terezìn (Theresienstadt) heute: Die Vergangenheit ist allgegenwärtig.
Die böhmische Kleinstadt Terezìn (Theresienstadt) heute: Die Vergangenheit ist allgegenwärtig. © Deutschlandradio / Kilian Kirchgeßner
Von Kilian Kirchgeßner |
Die böhmische Festungsstadt Terezín hat nur 3000 Einwohner, ist aber weltbekannt. In Theresienstadt errichteten die Deutschen 1941 ein Konzentrationslager. Die Reduzierung auf die schreckliche Vergangenheit stört viele Einwohner und Lokalpolitiker. Sie wollen lieber über ihre Psychologie-Hochschule oder das Kaiserzeit-Museum sprechen.
Ein großes Tor führt in das Anwesen, das von außen wie ein stattliches Reihenhaus wirkt. Hier muss entlang, wer zum spektakulärsten Fund von Theresienstadt will: Vom Durchgang aus geht es hinauf auf einen Dachboden.
"Amalka, gib mir bitte die Hand. Und Sie, gehen Sie doch schon einmal vor."
Die Hausherrin Jolana Tothova nimmt ihre kleine Tochter bei der Hand; die Stufen der Holztreppe sind ausgetreten; oben direkt unter den Dachziegeln brennt nur eine schwache Glühlampe, auf dem Boden sind die Dielenbretter gelöst.
"Hier bitte aufpassen auf das Loch, wir haben ein Stück vom Boden rausnehmen müssen.
Fein säuberlich sortierte Fundstücke
Vor ein paar Jahren hat Jolana Tothová mit ihrer Familie das Haus in Theresienstadt gekauft. Als sie jetzt das Dach renoviert haben, entdeckten sie unter den Dielenbrettern persönliche Gegenstände, scheinbar achtlos hingeworfen. Sie gehörten einst Bewohnern aus dem Ghetto. Ihre Fundstücke hat sie feinsäuberlich auf dem Dachboden sortiert. Jolana Tothova:
"Wir lassen die Sachen bewusst hier oben wegen des Klimas; unter diesen Bedingungen haben sie sich sieben Jahrzehnte gehalten, wir wollen sie sicherheitshalber nirgendwo anders hinbringen. Schauen Sie, hier ist ein Kofferanhänger mit dem Namen eines Mannes, der wohl hier untergebracht war: Georg Israel Motulsky, Färberstraße, Leipzig. Und hier liegen Strumpfhosen, Handschuhe, sehr viele Paar Schuhe, der ganze Stapel da. Und hier auf dem Papier ist ein Theater gemalt: Einen Ritter und eine Prinzessin sieht man da auf der Bühne stehen."
Einige der Gegenstände, die Jiri Smutny und Jolana Tothova auf dem Dachboden ihres Hauses in Terezín (Theresienstadt) gefunden haben.
Einige der Gegenstände, die Jiri Smutny und Jolana Tothova auf dem Dachboden ihres Hauses gefunden haben. © Deutschlandradio / Kilian Kirchgeßner
Einen anderen Schatz hat die Hausbesitzerin nicht mehr auf dem Dachboden gelassen: Ein kleines Schächtelchen mit einer Kapsel, in der sich ein aufgerollter Pergamentstreifen befindet mit handgeschriebenen Abschnitten aus der Thora – Teil eines jüdischen Gebetsriemens und ein extrem seltenes Zeugnis: Ein Hinweis darauf, wie die jüdischen Bewohner des einstigen Konzentrationslagers Theresienstadt ihren Glauben gelebt haben – selbst hier, unter den furchtbaren Bedingungen des Ghettos. Die heutige Hausbesitzerin Jolana Tothova:
"Die meisten Gegenstände, die man hier gefunden hat, sind schon nach dem Krieg weggeworfen worden. Die Leute, die 1946 nach Theresienstadt kamen, um die Stadt neu zu besiedeln, die haben erst einmal aufgeräumt. Man wusste, dass im Ghetto auch Typhus geherrscht hat, man wollte alles möglichst gründlich reinigen. Man hat also alles, was da auf den Dachböden stand, einfach weggeworfen. Und manche der neuen Hausbesitzer sind lieber gar nicht erst raufgegangen auf den Dachboden."
Ein Ort mit schrecklicher Vergangenheit
Jolana Tothova gehört in Theresienstadt zu denen, die sich der Vergangenheit stellen – und die trotzdem in der Gegenwart leben. Ihre kleine Tochter wächst ganz selbstverständlich inmitten der Stadt auf, die einst ein Ort des Schreckens war. Warum auch nicht, fragt Jiri Smutny, der Vater der Familie, und sagt dann, man sei schließlich ein ganz normaler Ort. Die Gemeinde selbst bestehe aus vielen Alteingesessenen, erzählt er, aber auch neue Familien zögen zu – wenngleich es nur wenige seien.
"Großes Interesse an Theresienstadt gibt es nicht; viele verbinden die Gemeinde mit dem Zweiten Weltkrieg. Es gab eine Zeit, wenn man da erzählt hat, dass man aus Theresienstadt kommt, da haben sich die Leute an den Kopf gefasst und gesagt: Wie kann man nur im KZ leben?"
Theresienstadt: Vor allem als Ghetto und Konzentrationslager ist der böhmische Ort bekannt geworden. Die Nazis pferchten hier die Juden aus der weiten Umgebung ein; für sie war es eine Durchgangsstation in die Vernichtungslager. Ein paar hundert Meter entfernt vom Zentrum errichteten sie ein besonders brutales Gestapo-Gefängnis. Bis 1945 durchliefen etwa 160.000 Häftlinge die Hölle von Theresienstadt; Abertausende von ihnen wurden hier umgebracht.
Blick durch Stacheldraht auf die Gebäude des 1941 von der SS errichteten Konzentrationslagers Theresienstadt.
Blick durch Stacheldraht auf die Gebäude des 1941 von der SS errichteten Konzentrationslagers Theresienstadt.© picture alliance / dpa
"Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" – das ist der perfide Titel eines Films, den die Nazis in Theresienstadt drehen ließen. Der Ort diente ihnen als Vorzeige-Ghetto, selbst ausländische Besucher luden sie hierhin ein. Im Film sieht man einen vermeintlich idyllischen Alltag – kleine Geschäfte, einkaufende Mütter, berufstätige Väter, ein Fußballspiel am Wochenende. Es hatte seinen Grund, dass sich die Propagandisten gerade Theresienstadt ausgewählt haben für ihre Filme:
Die Stadt wirkt idyllisch, ist aber gleichzeitig eine Festung. Gebaut worden ist sie 1780, eine Reißbrett-Gründung der Habsburger Armee; eine Garnisonsstadt, benannt nach Maria Theresia. Aus roten Backsteinen sind die Schanzen gemauert, umgeben von Gräben, die sich im Verteidigungsfall über hunderte Meter mit Wasser fluten ließen. Im Innern stehen riesige Kasernen; es gibt einen Hauptplatz mit schmuckem Rathaus. Die Gassen sind kunstvoll angelegt in der Kaiserzeit – eine ideale Kulisse für die Nazi-Propaganda, noch dazu durch die alten Festungsmauern perfekt gesichert gegen Ausbrecher.
Renovierung der alten Kasernen
Derzeit ist Theresienstadt eine Großbaustelle; einige der alten Kasernen werden renoviert. Hier sind Uta Fischer und Roland Wildberg unterwegs; die beiden Berliner von der Initiative Ghettospuren suchen seit Jahren nach Überbleibseln aus dem alten Ghetto. Hier in der Kaserne, das haben Bauarbeiter gemeldet, seien in einem Gewölbekeller alte Inschriften aufgetaucht.
Fischer und Wildberg steigen mit ihrer kiloschweren Fotoausrüstung in den Keller hinab. Ein paar Buchstaben sieht man dort an der Decke, jemand muss sie mit dem Ruß einer Kerze angebracht haben.
"1942, hier haben wir was!"
"Das ist natürlich sehr schön: 25.10.1942, die Initialen dazu."
"ZLR oder sowas."
"Und da steht nochmal 1942. Das weiß man nicht, wer das da rangeschrieben hat. Das Gebäude ist lange von der SS genutzt worden, man kann das nicht mit Sicherheit sagen, von wem das stammt."
Roland Wildberg stellt zwei Strahler auf Stative und leuchtet die Decke aus, dann packt er seine Kamera aus:
"Dann mache ich mal ein Bildchen, oder?"
Dutzende Inschriften aufgetaucht
Dutzende solcher Inschriften haben Uta Fischer und Roland Wildberg in den vergangenen Jahren gefunden, stumme Zeugnisse aus der Zeit des Lagers und zugleich Mosaiksteinchen, die sich zusammensetzen lassen zu einem großen Bild des Lebens der zusammengepferchten Bewohner und ihrer Peiniger. Ghettospuren – so heißt das Projekt von Fischer und Wildberg, in dem sie penibel dokumentieren, was 70 Jahre nach der Befreiung des KZs noch zu finden ist. Uta Fischer:
"Bei diesem Objekt hier ist es die letzte Möglichkeit, authentische Spuren zu finden. Wenn ein Haus erst einmal rundum saniert ist, dann ist nichts mehr zu finden. Die Hoffnung von vielen, dass man hinter einer Vermauerung noch ein Tagebuch findet oder Zeichnungen, das ist doch eher unwahrscheinlich."
Und doch gibt es immer wieder spektakuläre Funde: Die Gebetsriemen vom Dachboden etwa oder Zimmer, deren Wände über und über mit Malereien der Häftlinge verziert sind.
"Natürlich hat das jeder in Erinnerung"
Es gibt aber auch noch das andere Theresienstadt – das von heute. 3000 Einwohner leben hier; sie sind in den Gebäuden zu Hause, wo einst in der Monarchie die Soldaten und Zivilangestellten untergebracht und dann, im Zweiten Weltkrieg, die Juden zusammengepfercht waren. Es gibt einen Lebensmittelladen, eine Dorfkneipe und natürlich ein Rathaus. Es steht direkt am Marktplatz, mit Blick auf die Garnisonskirche schräg gegenüber. Wer die Treppe hinaufsteigt, findet im ersten Stock das Bau- und das Standesamt, im zweiten Stock hat die stellvertretende Bürgermeisterin Hana Rozcova ihr Büro.
"Unsere Bürger leben so wie die Bürger von anderen Städten auch. Dass hier das Ghetto war – natürlich hat das jeder in Erinnerung. Die Geschichte kann man nicht auslöschen, nicht vergessen. Aber im Alltag nehmen die Bürger das nicht wahr, sie sehen ihre alltäglichen Sorgen und Freuden wie die Leute in den Nachbarorten auch."
Hana Rozcova ist eine resolute Dame, seit vielen Jahren schon ist sie im Stadtrat. Die Aufgaben in der Stadt sind klar verteilt: Es gibt eine Gedenkstätte, die im früheren Gestapo-Gefängnis ihren Sitz hat, ein wenig abgesondert von der Kernstadt. Sie organisiert Führungen, historische Ausstellungen, Gedenkakte. Und dann gibt es eben die Stadtverwaltung, die sich um die Gegenwart kümmert: Um die schiefen Pflastersteine auf dem Gehweg, um die Kanalisation – und um eine Vision für die Stadt, die alle Auswärtigen immer nur mit dem KZ in Verbindung bringen. Hana Rozcova:
"Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, eine lebendige Stadt zu schaffen. Als erstes unterstützen wir dafür nach Kräften das Vereinsleben; das gelingt uns gut. Als zweites haben wir die Entstehung der Hochschule für Psychologie unterstützt, die ersten Absolventen haben jetzt abgeschlossen. Und dann wollen wir natürlich unseren Kindergarten und die Grundschule erhalten – das ist unsere Vision. Die Wohnungspolitik ist allerdings nicht ganz einfach, weil wir natürlich in der Festungsstadt keine Baugebiete ausweisen können. Wir möchten trotzdem Bedingungen dafür schaffen, dass junge Familien hierbleiben."
Engagierte Pläne für die Zukunft
Vor ein paar Jahren haben die Theresienstädter einen großen Plan entwickelt, damit ihre Stadt nicht nur eine Vergangenheit hat, sondern auch eine Zukunft: Die alten Kasernen wollten sie renovieren und dort einen ausgelagerten Campus der Prager Karls-Universität eröffnen. Junge Leute hätte das in die Stadt gebracht, zugleich würden die riesigen ungenutzten Gebäude nicht länger verfallen. Die Sache ist schließlich gescheitert, vor allem am Geld: Mehrere hundert Millionen Euro hätte das Projekt gekostet - die Stadt selbst hat einen Jahreshaushalt von etwas über einer Million Euro.
Jetzt, zum 70. Jahrestag der Befreiung Theresienstadts, sollen aber doch einige alte Militärgebäude wiedereröffnet werden. Ein Infozentrum und ein Museum über die Zeit als kaiserliche Festungsstadt sind geplant. Der Tourismus, sagt Miloslav Kubicek, der Geschäftsführer der Stadt, sei die einzige Chance – schon heute kämen mehr als eine Viertelmillionen Besucher pro Jahr, darauf lasse sich aufbauen.
"Die Besucher ändern sich. Früher waren es vor allem Zeitzeugen, aber von denen gibt es nicht mehr viele. Heute sind es andere Leute; natürlich haben sie von Theresienstadt gehört. Sie kommen in die Stadt, schauen sich um, wollen etwas lernen – aber eben auch etwas essen, sich einen Moment hinsetzen. Dafür gibt es noch keine Möglichkeiten. Unser Versuch ist es also, den Besuchern die weiteren Werte von Theresienstadt zu zeigen."
Dokumentation der Ghettospuren
Es ist Mittagszeit, die beiden Berliner Uta Fischer und Roland Wildberg von der Initiative Ghettospuren sitzen in der Dorfkneipe. 1998 war Fischer zum ersten Mal in Theresienstadt, damals noch als Studentin. Städtebauliche Denkmalpflege war ihr Fach, und ihre Uni-Gruppe hat sich die Frage gestellt, ob wohl in Theresienstadt noch etwas von der Vergangenheit zu finden sei.
Das Team um Roland Wildberg (der Fotograf) und Uta Fischer auf der Suche nach Ghettospuren bei den Renovierungsarbeiten in Terezìn (Theresienstadt).
Das Team um Roland Wildberg (der Fotograf) und Uta Fischer auf der Suche nach Ghettospuren© Deutschlandradio / Kilian Kirchgeßner
Daraus ist Jahre später die Initiative geworden, mit der Uta Fischer und Roland Wildberg heute unterwegs sind. Haus für Haus durchforsten sie Theresienstadt – und obwohl inzwischen sieben Jahrzehnte seit dem Kriegsende vergangen sind, entdecken sie immer wieder Spuren aus der alten Zeit. Die dokumentieren sie auf ihrer Internetseite ghettospuren.de.
"Das fängt an beim krummen Nagel, geht über Wandbilder und ganze Ausbauten oder Dachböden bis hin zu ganz unscheinbaren Sachen, wir heute gesehen haben: Mal ein Graffito, aber die ganze Palette ist noch da."
Zusammen mit alten Transportlisten und anderen Unterlagen, die sich noch im Archiv finden lassen, können Fischer und Wildberg die Spuren oft konkreten Menschen, konkreten Schicksalen zuordnen. Uta Fischer schaut kurz auf ihre Uhr.
"Wir müssen jetzt aber leider los, wir kriegen sonst Ärger."
Es geht noch einmal in die Kaserne, sie müssen weitere Spuren sichten in einem abgelegenen Kellerraum.
"Komm rein, hier ist was, aber man kann es nicht mehr lesen."
"Das ist ja praktisch."
Kritzeleien als Lebenszeichen der Häftlinge
Es waren wohl einmal Buchstaben, die hier jemand an der Decke hinterlassen hat. Die Kritzeleien, die sie überall entdecken, entsprechen wohl einem Grundbedürfnis vieler Häftlinge, vermutet Roland Wildberg:
"Dass Menschen ganz offensichtlich ein Lebenszeichen hinterlassen wollen. Da wird oft der abgekürzte Name verwendet. Oder auch die Transportnummer, die ist für jeden Häftling einzigartig. Die Identifikation mit diesem Merkmal, das ja eigentlich ein Unterdrückungsmerkmal war, ist komischerweise sehr hoch. Ob es daran liegt, dass man die Häftlingsnummer viel einfacher einritzen kann als den eigenen Namen? Oder ist es die Gemeinsamkeit der Häftlinge, die das gleiche Schicksal teilen?"
Roland Wildberg baut seine Lampen auf und macht Fotos, dann trägt er die Ausrüstung mit Uta Fischer zusammen in eines der oberen Stockwerke. Dort klafft in einer Mauer ein Loch, dahinter verbirgt sich ein zugemauerter Raum. Die Bauarbeiter haben dort eine lange Inschrift gesehen, die Worte "Heil Hitler" konnten sie entziffern. Einer der Männer von der Renovierungs-Firma zeigt auf den kleinen Zugang, der nicht einmal einen halben Meter breit ist:
"Das ist hier, zwischen den Mauern. Ich war da drin!"
"Na, dann schafft das Roland auch. Roland, das schaffst du!"
"Na, den Scheinwerfer kriegen wir da gerade eben so rein. Was Hitler alles schafft, jetzt krieche ich hier vor Hitler im Staub!"
Zentimeter für Zentimeter fotografiert Roland Wildberg die alten Kritzeleien. Wieder ist ein Zeugnis aus der alten Zeit gerettet, bevor es durch die Renovierungsarbeiten für immer verloren geht. Im Internet werden die Überbleibsel dokumentiert – als digitale Spuren, so hoffen Wildberg und Fischer, sind sie nun für die nächsten Generationen gesichert.
Mehr zum Thema