Eduardo Halfon: "Duell"

Wahrheiten, die verrückt machen

05:40 Minuten
"Duell" von Eduardo Halfon
Was soll man glauben? Eduardo Halfon hält Deutungen in seinem Roman meisterhaft in der Schwebe. © Hanser Verlag
Von Sigrid Brinkmann · 12.10.2019
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Autor Eduardo Halfon möchte wissen, was mit seinem jüdischen Onkel Salomon passiert ist. Der Ich-Erzähler in "Duell" glaubt fest daran, Salomon sei als Kind in einem See ertrunken. Aber auf Erinnerungen ist nur eingeschränkt Verlass.
Eduardo Halfon liebt es, den Unterschied zwischen Fiktion und Realität zu verwischen und uns glauben zu machen, seine autobiographischen Erkundungen seien unbedingt der Wahrheit verpflichtet. Dabei zeigt sich doch immer wieder aufs Neue, dass auf Erinnerungen nur eingeschränkt Verlass ist. Erst recht nicht, wenn sie um schmerzhafte Verluste kreisen. Und davon gab es genug im Leben von Halfons jüdischen Vorfahren, die aus Łódź und Beirut nach Amerika emigrierten und auf verschlungenen Wegen nach Guatemala gelangten.
Das dringende Bedürfnis herauszufinden, wer sein Onkel Salomon war, führte den Autor zurück in das Land seiner Kindheit. Über den Bruder seines Vaters wurde in der Familie nie gesprochen. Der Ich-Erzähler glaubt fest daran, Salomon sei im Alter von fünf Jahren im See von Amatitlán ertrunken. Die noch nach Jahrzehnten aufflackernde kindliche Furcht, der leblose Körper des jung Verstorbenen könne beim Sprung ins Wasser auftauchen, scheint ein verlässlicher Indikator für die Richtigkeit dieses Narrativs zu sein.

Ergreifende Bestandsaufnahme am Ende

Es zeigt sich jedoch, dass der Versuch, den tragischen Vorfall zu rekonstruieren, andere Geschichten gebiert. Was soll man glauben? Halfon hält Deutungen meisterhaft in der Schwebe und findet am Ende zu einer ergreifenden Bestandsaufnahme, die sich vor mehr Schicksalen als nur dem des nie gekannten Verwandten verbeugt. Solange Unklarheit herrscht, verschafft ein Rückgriff auf Epikur dem Erzähler Erleichterung. Dem griechischen Philosophen zufolge haben alle denkbaren Erklärungen eines Phänomens eine Geltungsberechtigung.
Halfon schreibt fragmentarisch. Traumhaft sicher verwebt er Erinnerungssplitter mit stimmungsvollen Landschaftsimpressionen und die Wirkung von widerwillig absolvierten Besuchen geschichtsschwerer Orte mit der Schilderung anrührender Begegnungsmomente. Don Isidoro, einst Gärtner im Landhaus der Großeltern, hatte den Jungen gelehrt, "schöne Worte" zu sprechen, damit Pflanzen wurzeln und wachsen können. Und er verstand es, dem Kind die Angst vor nächtlichen Schießereien während der Bürgerkriegsjahre zu nehmen, indem er ihm einredete, es höre nur Explosionen aus dem Innern des Vulkans von Amatitlán. Das Spiel mit Namensgleichheiten, das Springen zwischen verschiedenen Zeitebenen und wechselnde Handlungsorte fordern alle Konzentration, doch die tendenziell erratische Erzählweise hat etwas sehr Poetisches.

Schuldzuweisungen durchziehen das Textgewebe

Die nicht zugestandene Betrübnis über den frühen Tod eines Kindes und nachfolgende, späte Schuldzuweisungen durchziehen das ganze Textgewebe. Das spanische Wort "Duelo" kann "Duell" bedeuten oder "Trauer". In der französischen Übersetzung steht die Trauer im Titel. Beide Varianten haben ihre Richtigkeit. Das Duell liefern sich zwei alte Brüder: Großvater und Großonkel des Erzählers. Qua falscher Identität einer reichen Witwe "das Fell über die Ohren zu ziehen" – so wie es der Großonkel getan hatte –, ist kriminell, aber nichts im Vergleich zum Verlassen eines Kindes. Ein einziger anklagender Ausruf beendet die Konfrontation sekundenschnell. Und plötzlich versteht man, was jeder wissen kann: Es gibt Wahrheiten, die können verrückt machen. Um des puren Weiterlebens willens, werden verschleiernde Behauptungen ersonnen. Werden diese demaskiert, fällt der Hammer. Eine Nebenfigur mit viel Möglichkeitssinn weist den Weg, sich mit dem Unabänderlichen zu arrangieren. "Duell" ist schlicht ein ergreifendes, kleines Meisterwerk.

Eduardo Halfon: "Duell"
Aus dem Spanischen von Luis Ruby
Hanser Verlag, München 2019
110 Seiten, 18 Euro

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