Wider die Authentizität

Die Kunst lebt von der Fantasie

Illustration: Geometrische Körper und tanzende kreative Figuren drumherum.
Die Losung "Sei authentisch!" solle das Gefühl vermitteln, es gebe in unserer komplizierten Welt noch Normales, erklärt die Autorin Kerstin Hensel. Doch in der Kunst sei das eine Täuschung. © Getty Images / iStock / Denis Novikov
Überlegungen von Kerstin Hensel |
Im Kulturbetrieb wird das Mantra des „Authentischen“ gepredigt. Nur die Zurschaustellung des Ichs führe zum Erfolg. Ein Irrweg, meint die Autorin Kerstin Hensel, ja: ein Verrat an der Kunst.
Während sich humanoide Truppen sogenannter künstlicher Intelligenz auf dem Vormarsch in unsere Gesellschaft befinden, gebietet General Zeitgeist den Künstlern, sich ihrer natürlichsten Natürlichkeit zu ergeben. Dem Befehl folgen unumwunden jene Musenknechte, die sich Erfolg durch Beliebtheit versprechen.
Die Losung lautet: Sei authentisch! Authentisches in Bild, Buch, auf Bühne und Leinwand soll in unserer technisierten, digitalisierten, zwanghaften, eitlen, modischen, chaotischen, barbarischen und komplizierten Welt das beruhigende Gefühl vermitteln, dass es noch etwas gibt, was echt, einfach, offenkundig, ergo normal ist.

Kunst ist verwandelte Wirklichkeit

Nun ist ernst zu nehmende Kunst niemals normal. Sie ist das Andere, Grenzüberschreitende, verwandelte Wirklichkeit.
Gegenwärtig dominieren jene Kreativen, die vorgeben, in ihrem Werk und/oder in ihrer Persönlichkeit total unverstellt sowie bis ins letzte Seelenfaserchen hinein ehrlich zu sein. Zu sich und ihrem Publikum. Ihre Kunst – oder was sie dafür halten – begreifen sie als unverfälschtes Abbild „des Lebens, wie es wirklich ist“.

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Doch was ist für sie das wirkliche Leben? Vornehmlich das, was mit dem schnöden Alltag und der eigenen Denkwelt identisch scheint. Als Maßstab gelten Fakten, Ungestaltetes, einfach Durchschaubares, wirklich Existierendes. Sie nennen es das Wahre, Gute und einzig Richtige. Weil es ist, wie es ist.

Authentizität als Wohlfühlmittel gehypt

Was dadurch mehr und mehr an Wert verliert, weil es im Verdacht steht, falsch und verwirrend zu sein, sind jene genuinen künstlerischen Kräfte wie Form, Fantasie und Fiktion. Das ist nicht neu. Schon als Kind hat man mich vor den „Hirngespinsten“ der Fantasie gewarnt, als ich mich von Büchern und Bildern verzaubern ließ.
Vieles, was nicht auf authentischen Plattfüßen daherkommt, wird als unecht, verlogen, verquer, abgehoben und wirklichkeitsfremd empfunden. Aus Angst und Unwille, die gewohnte Wahrnehmung eigener Lebensrealität infrage zu stellen.
Dem Dilettanten, der sich als Könner ausgibt, wird applaudiert; mehr noch dem Könner, der sich als Dilettant verkauft. Das wirkt sympathisch, da erkennt man sich wieder!
In den Medien wird Authentizität als Wohlfühlmittel propagiert, inszeniert, gehypt und trefflich veräußert. Doch im Prinzip ist sie ein Fake, der die permanente Selbstschau, die hilflosen Social-Media-Eskapaden, die digitalen Spiele mit Persönlichkeit und letztlich das Egomarketing befeuern.

Sehnsucht, "man selbst zu sein"

Ich verstehe durchaus das Bedürfnis, Scheinheiligkeit, Verstellung und anderen Täuschungen zu entsagen. Darin steckt die Sehnsucht, sich von gesellschaftlichen Nötigungen zu befreien und endlich „man selbst zu sein“. Nun ist aber das Wissen darum, wer man selbst sei, eine komplizierte Angelegenheit mit beträchtlicher philosophischer und psychologischer Fallhöhe. Für den, der auf seinem „Normalsein“ beharrt, bleibt sie meistens ohne befriedigende Antwort.
In den Fängen der Echtheitsschwärmer hat man es schwer, zwischen Kunst und Künstlichkeit, zwischen Darsteller und ihrer Rollen zu unterscheiden. Statt die Strahlkraft der Kunst zu erfahren, gibt man sich lieber dem trüben Flackern des scheinbar Unverfälschten hin.
Natürlich soll Kunst glaubhaft sein, doch es gibt keine authentische Kunst. Punkt. Kunst gehört zwar zum Leben und kommt aus ihm, aber sie ist es nicht. Wäre sie es, bräuchten wir sie nicht.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Sie hat zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Im März 2020 erschien ihre Novelle „Regenbeins Farben“.

Die deutsche Schriftstellerin Kerstin Hensel auf der Leipziger Buchmesse.
© dpa / picture-alliance / Jens Kalaene
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