Echoraum Alpen

Für den Dichter Petrarca war der Gang auf den Mont Ventoux in den französischen Voralpen noch eine "Pilgerfahrt". Für die literarische Reporterin Nadja Klinger war's etwas anderes: die Erkundung eines Lebensraums, einer Kulturlandschaft, von der die Autorin sagt, sie sei "nicht mehr zu retten".
Vom Bodensee bis zum Comer See führte die 1965 geborene Autorin ihre Reise, deren Schilderung sie geschickt verquickt mit längeren reflexiven Passagen über die mythen- und geschichtenreiche riesige "Gesteinsbarriere", die Europa in Nord und Süd teilt. Klinger notiert: "Das Gebirge bürgt für nichts. Es bietet Erfahrungen, aber kein sicheres Geleit."

Von Anfang an ist klar, dass dies alles andere als eine beschauliche Wanderung werden wird, kein leichter "Ausflug ins Gebirge", der laut Franz Kafka "die Hälse frei werden lässt": Unwetter warten auf sie und ihre Begleiterin, unwirsche Gasthof-Wirtinnen und fantastische Gipfel-Aussichten. Bei deren Beschreibung aber hält sich Klinger, die eine überaus kluge und feine Beobachterin ist, nicht lange auf. Lieber geht sie den Geschichten anderer Alpenmenschen nach: der des Alpenwetterwarts Heinrich Haas etwa, der 1922 gemeinsam mit seiner Frau einem bis heute nicht restlos aufgeklärten Mord auf dem 2500 Meter hohen Säntis zum Opfer fiel. Oder Klinger trifft den blinden Kletterer Andreas Josef Holzer, der sich, bergbesessen, den Weg die Wände hoch Griff für Griff ertastet. Ihr gelingt es, die Grunderfahrung eines jeden Berggehers in Worte zu fassen: die Erfahrung, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden in der Bergeinsamkeit, in einer "Welt, die sich beeindruckend feindselig inszeniert".

Ob es Arnold Zweigs Essay über die "Dialektik der Alpen" ist oder Adalbert Stifters Erzählung 'Bergkristall' – die Autorin lädt auch auf eine Reise in den literarischen Echoraum Alpen ein. Aufschlussreich Klingers klarer Blick auf die "Therapielandschaft" Alpen mit riesigen Winter- und Sommersportarenen sowie Höhenluftkuren, die durch die überbordende Fülle der Freizeitangebote (vom Heli-Skiing übers Riverrafting bis hin zum Bungee-Jumping aus Seilbahnen) immer stärker "entwürdigt" wird.

Menschliche Hybris will es, dass die Architekten Herzog und de Meuron auf der Schatzalp bei Davos - dort, wo Thomas Mann seinen "Zauberberg" spielen ließ - einen "Zauberturm" errichten. Und am St. Gotthard wird derzeit der längste Basistunnel der Welt ins Gestein gebohrt. Voraussichtlich ab 2017 rollen Züge dort über eine Strecke von 57 Kilometern durchs Massiv. Haben wir den Respekt vor diesem "gewalttätigen Flecken Erde" verloren, "an dem der Mensch gar nicht vorgesehen ist", dem er aber immer wieder Leben abgerungen hat, fragt Klinger zu Recht. An einer Stelle zitiert sie Johann Wolfgang von Goethe, der angesichts des Gotthard-Massivs 1775 auf seiner Italienischen Reise über die Alpen meinte: "Für dergleichen hatte ich keine Sprache".

Nadja Klinger hat eine überzeugende Sprache und einen Ton gefunden, uns von fürchterlichen Bergstürzen und erhabenen Momenten zu erzählen, die man in den Alpen gleichermaßen gewärtigen muss.


Besprochen von Knut Cordsen

Nadja Klinger: "Über die Alpen. Eine Reise"
Rowohlt Berlin, 316 Seiten, 19,95 Euro