Dynamische Wirklichkeiten

Von Anette Schneider |
Weit verbreitet ist die Vorstellung, das fotografische Bild sei ein Abbild der Wirklichkeit. Diese Ansicht zu unterminieren, versucht eine Ausstellung in Hamburg. Die Werke künden von den fast unendlichen Möglichkeiten des Mediums Fotografie.
Von weitem sehen die Fotografien aus wie abstrakte Bilder: Ein großes Rechteck in unterschiedlichen Brauntönen. Daneben ein langgestrecktes Viereck mit Zacken daran. Nähert man sich den Bildern, lösen sie sich auf in Einzelteile: das braune Rechteck wird zu einem abgeschabten Holzfußboden. Das zackige Viereck zur Etage einer ganzen Kunsthochschule. Eine Aufsicht mit Blick auf zahlreiche Ateliers und Seminarräume. Und doch stimmt etwas nicht mit diesen Bildern, denn Andreas Gefeller, Jahrgang 1970, vermisst in seiner Serie "Supervisions" die Welt auf ganz eigene Weise: mit großem technischem Aufwand fotografiert er Stück für Stück die Oberflächen geschlossener und urbaner Räume ab - und fügt am heimischen Computer aus bis zu 2500 Einzelbildern ein großes neues zusammen. So sieht man reale Räume aus einer fiktiven Perspektive, sind Nahaufnahme und Überblick in einem Bild vereint.

Auch die anderen sieben Fotografinnen und Fotografen beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Bild und Wirklichkeit. Für vollkommen unwirklich hält man, was Hans-Christian Schink auf seinen großen Schwarzweiß-Fotografien zeigt: weite Blicke über hügelige Landschaften, Küsten und urbane Plätze, in deren Himmeln in unterschiedlicher Schräglage ein schmaler schwarzer Balken hängt. Doch, so erklärt der Fotograf:

"Das ist nichts anderes als der scheinbare Weg der Sonne über eine Stunde lang aufgenommen an verschiedensten Orten der Welt. Daher auch die Unterschiedlichkeit des Winkels dieser schwarzen Linie. Dass diese Linie schwarz ist, geht zurück auf den Effekt der sogenannten echten Solarisation. Das heißt: wenn eine Lichtquelle, die sich im Bild befindet, ein gewisses Maß an Überbelichtung erreicht, wird sie eben nicht mehr weiß, sondern schwarz dargestellt, das ist ein physikalischer Effekt, quasi das Umkippen des Lichtwertes."

So ist, was surreal wirkt, wirklich, macht die statische Fotografie verflossene Zeit sichtbar. Hans-Christian Schink spürt damit den Möglichkeiten von Fotografie nach. Und denen, wie sie Wirklichkeit darstellen kann.

"Genau darum ging es ja bei meiner Arbeit. Die Frage sogar so zu stellen: Welche Realität kann nur die Fotografie wahrnehmen? Das ist im Grunde der Kern, um den sich diese Serie dreht."

Ganz anders Dörte Eisfeldt. Sie macht die Kluft sichtbar zwischen Bild und Realität. Beispielsweise lässt sie Licht in die Kamera fallen, so dass auf den Abzügen Farbstreifen entstehen - Störfaktoren, die daran erinnern, dass Bild und Gegenstand stets zweierlei sind.

Oder Beate Gütschow. Sie arbeitet mit Versatzstücken der Wirklichkeit: auf Reisen fotografiert sie leerstehende Betonbauten, die sie später am Computer zusammenfügt zu menschenleeren apokalyptischen Stadtansichten mit Autowracks und Müllbergen.

Und Andrea Sunder-Plassmann irritiert mit ihrer Arbeit eingefahrene Sehgewohnheiten, lenkt den Blick auf die Wirklichkeit unter der sichtbaren Oberfläche.

"Weil: die Menschen denken immer, was sie sehen, ist auch wirklich. Und ich find's halt eine große Herausforderung, mit dem Anschein des Wirklichen eine Wirklichkeit zu zeigen, die wir nicht sehen. Das ist dieser große Kontrast und die Wahnsinnsspannung, was die Leute dann auch erschreckt, ne? Weil sie denken, das ist wirklich, aber irgendwie spüren sie im Innern, dass es nicht ganz wirklich ist."

Für ihre Serie "Seria Larva" nahm die Berliner Künstlerin zahlreiche Selbstportraits auf: Mal blickt sie erschrocken, hält die Hände vor den Mund, oder die Augen geschlossen. Gleichzeitig arbeitet Andrea Sunder-Plassmann mit Mehrfachbelichtungen und Überblendungen. So verschwimmen einzelne Partien, verschieben sich ineinander, sind die Augen gleichzeitig geöffnet und geschlossen.

"Mir geht es darum, dass, was in einem Menschen stattfindet, irgendwie nach Außen zu transportieren. Und das sind jetzt nicht so extreme Dinge, die man herausschreit, sondern das sind stillere Prozesse. 'Larva' ist ja auch ein Vorstadium des Schmetterlings. Man entpuppt sich sozusagen, entfaltet sich."

Die Ausstellung "Veto" stellt damit ganz unterschiedliche Positionen zeitgenössischer Fotografie, die dennoch eines gemeinsam haben: ihre Lust, künstlerische Bilder zu schaffen, die gängige Vorstellungen von Wirklichkeit aufbrechen, und eine allzu einfache Sicht auf das fotografische Bild verweigern. Die vorführen, dass Wirklichkeit nicht die Oberfläche von etwas ist, nichts Festes und Eindeutiges, sondern facettenreich, dynamisch - und ständig sich verändernd. Dass dabei viele auf Schwarzweiß-Fotografie zurückgreifen, ist für Andrea Sunder-Plassmann kein Zufall:

"Im Moment wird ja alles in High Definition gezeigt. Kristalline Farben auf dem Fernseher - man braucht nur in irgendeinen Media-Markt zu gehen - die Optik ist unheimlich angestrengt. Ich denke, dass die Augen sich auch einmal ausruhen müssen. Und dass es wirklich auch so eine Art ausatmen ist. Und wirklich wieder gucken können. Dieser Wunsch nach Nuancen ist auch da. Und das ist vielleicht dieses Veto, dieser Einspruch: gegen diese flache, digitalisierte Visualität."

Service:
Die Ausstellung "Veto - Zeitgenössische Positionen in der deutschen Fotografie" ist vom 4.9.-15.11.09 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.