Durch das Ich in die Welt

Wie Dokumentarfilme heute erzählen

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Der US-amerikanische Filmregisseur Michael Moore in einer Szene des Kinofilms "Where to Invade Next" © dpa/pa / Paul Buck
Von Matthias Dell · 20.07.2016
In der Geschichte des dokumentarischen Films hat nicht nur die Kamera an Gewicht verloren, sondern auch die Autorität. Aus dem scheinbar objektiven Wochenschau-Kollektiv, das Wirklichkeit beschreibt, ist ein Autor geworden, der Subjektivität nicht mehr verleugnet.
Fangen wir doch mal so an - bei mir, mit mir, mit diesem Autoren-Ich, das Ihnen jetzt etwas über das Erzählen von Dokumentarfilmen erzählt. Durch die Stimme einer Sprecherin, die sie nicht für meine halten dürfen.
"Wouldn't it be nice" heißt der Opener auf dem epochalen Album "Pet Sounds", das die Beach Boys 1966 veröffentlichten. "Wouldn't it be nice" ist das erste, was mir einfällt, wenn ich an Michael Moores Dokumentarfilm "Roger & Me" denke. Der Film feierte 1989 Premiere, ich habe ihn erst Jahre später gesehen, ein Bekannter hatte ihn mir als VHS-Kassette ausgeliehen, und als ich "Roger & Me" dann an einem ersten warmen Tage des Jahres 1998 anschaute, blieb mir, vielleicht wegen des anbrechenden Sommers vor dem Fenster, von dem Film zuerst die hier noch komplexe Unbeschwertheit der Beach Boys zurück. So legte ich in den Folgejahren Wert darauf, an Frühsommertagen im Autoradio "Pet Sounds" auf Kassette zu hören, und ich freute mich, wann immer ich den Beach Boys wieder begegnete.

Begeisterung für die Beach Boys

In "Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr" etwa, einer der ersten Arbeiten von René Pollesch, ich war mir damals sicher, die weitere Entwicklung der Pollesch-Stücke am besten popmusikhistorisch erklären zu können. Den Höhepunkt meiner durch "Roger and Me" entfachten Begeisterung für die Beach Boys bildete schließlich Heiner Goebbels' Theaterproduktion "Hashirigaki", die ich im März 2001 in Paris sah.
Es ging um Stadtplanung, Texte von Gertrude Stein und Musik aus den "Pet Sound"-Sessions, das Gastspiel stand 21 Tage lang auf dem Programm des Theater in Nanterre, wir hatten Karten für den vorletzten Abend, und weil es eines der schönsten Theaterstücke war, das ich je gesehen hatte, ging ich am nächsten Tag gleich noch mal hin und ärgerte mich danach, nicht früher auf "Hashirigaki" aufmerksam geworden zu sein.
Das könnte jetzt immer so weitergehen – mein Ich plaudert aus seinem Leben, wird sentimental, erinnert sich an Sachen, kommt auf Gedanken. Für mich ist das alles sinnvoll, mir kommt mein Ich wichtig vor, und die Möglichkeit, davon zu erzählen, ist schmeichelhaft. Für Sie ist es ein Ich wie jedes andere. Eher nicht so interessant. Also fangen wir noch mal von vorne an. Diesmal richtig.
"Irgendwie war ich ein merkwürdiges Kind. Meine Eltern haben ziemlich früh gemerkt, dass irgendwas mit mir nicht stimmen konnte. Ich krabbelte rückwärts, bis ich zwei war, aber dafür konnte ich Kennedys Antrittsrede schon mit sechs auswendig. Alles begann damit, dass meine Mutter zu meiner ersten Geburtstagsparty nicht erschien, weil sie gerade meine Schwester zur Welt brachte. Mein Vater versuchte mich aufzumuntern, und ließ mich die ganze Geburtstagstorte allein aufessen. Da schon war mir klar, dass das Leben mehr zu bieten haben muss als so etwas."
Der US-amerikanische Filmregisseur Michael Moore in einer Szene des Kinofilms "Where to Invade Next" (undatierte Filmszene).
Der US-amerikanische Filmregisseur Michael Moore in einer Szene des Kinofilms "Where to Invade Next" © picture-alliance / dpa / Falcom Media
So beginnt Michael Moores Film "Roger and Me", mit Ich-Erinnerungen und Kindheitsbildern. Der Film war eine Sensation: Ein politischer Dokumentarfilm, der 160.000 Dollar gekostet hatte und sieben Millionen einspielte, ein Kassenschlager, obwohl es um Massenentlassungen und den Niedergang der amerikanischen Autoindustrie ging. Der "Stern" schrieb:
"'Roger & Me' zeigt, dass Dokumentarfilme nicht nur klüger machen, sondern auch unterhaltsam sein können."
Interessant war die Person Michael Moore damals nicht: ein linker Publizist in den USA, kein Prominenter. Interessant war die Konstellation von "Roger and me", das Spannungsfeld, in das Moores Erzähler-Ich sich begab – der als "Roger" geduzte Mr. Smith, den der Filmtitel adressierte, war CEO von General Motors. Ein Konzernchef hoch droben in einem Büro, zu dem der unbedeutende Debütfilmer keinen Zutritt erhält. Eine Selbstermächtigung durch die Kamera. Das ist die Klammer des Films.
"Mr. Smith ist zur Zeit nicht anwesend und wir würden Ihr Anliegen, gern überdenken. So wie wir das bei anderen Anliegen, ihn zu sprechen auch tun. - Das hat man mir schon oft gesagt. Ich habe angerufen, geschrieben, war schon mal hier. – Geschrieben? – Geschrieben und angerufen, ja. – An wen? – To Roger Smith, General Motors Building, Grand Avenue, Detroit, Michigan. – Soll er doch einen Brief an dein Büro schicken. - Warum schicken Sie uns nicht einen Brief, und wir werden es überdenken, so wie wir es bei allen Anfragen wegen eines Termins beim Vorstandsvorsitzenden machen. – Nur dass ich schon ein Jahr auf einen Termin warte."
"Roger and me" erzählt vom Ende der Automobilindustrie im US-Staat Michigan in einer polemischen Mischung aus Großthese und Konkretion: Michael Moores Film will nicht nur den traurigen Zustand in der einst stolzen Industriestadt Flint dokumentieren. Er will auch etwas tun gegen ihren Niedergang. Und deshalb braucht es das Erzähler-Ich von Moore, das hier noch fast zaghaft im Bild erscheint: Moore ist der Repräsentant der Stadt, um die es geht, der Stadt, in der er geboren ist; deshalb die Kindheitserinnerungen und Privatgeschichten – das Leben der Familie Moore, die in der ökonomischen Sicherheit von Flint zu Hause war.
Michael Moores Ich läuft durch den Film als das alte Flint, das fordistische Flint, in dem der Industriekapitalismus dem Arbeiter Sicherheit und Wohlstand versprach. Das Ich versucht – und dafür braucht es die Anwesenheit des Körpers im Bild –, den Gap zu überbrücken, der sich im neoliberalen Zeitalter auftut: als Einspruch gegen die Abstraktionen, die Zahlen und Margen, mit denen CEO Roger Smith hoch droben in seinem Büro zu tun hat. Moores Ich sagt zu den Miserablen: ich höre euch zu, ich bin für euch da, um mit diesen Schicksalen, Geschichten, Beobachtungen dann zu Roger Smith zu gehen, wie bei der kurzen Begegnung auf der Konzernweihnachtsfeier am Ende des Films:
"Wir kommen gerade aus Flint, wo wir eine Familie gefilmt haben, die am Heiligabend aus dem Haus gesetzt wurde. Eine Familie, die früher in ihrer Fabrik gearbeitet hat. Wären Sie einverstanden mal mit rüberzukommen und sich das anzusehen? – Ich war schon in Flint und die Leute tun mir leid, aber darüber weiß ich nichts."
Schon damals gab es Kritik an Moores Methode der Zuspitzung, weil der Filmemacher die Zusammenhänge verkürzte und steile Thesen richtiger Chronologie vorzog. Im Gespräch mit Harlan Jacobson, seinerzeit Chefredakteur der Fachzeitschrift "Film Comment", zeigte sich Moore von den Vorwürfen wenig beeindruckt und verteidigte seinen Stil entschieden:
"Der Grund, warum die Leute sich keine Dokumentarfilme anschauen, ist, dass sie sich ständig verrennen in dieses: 1980 wurde also ... dann wurden '82 5.000 wieder eingestellt ... '84 wurden 10.000 entlassen ... dann aber wurden '86 3.000 wieder eingestellt ... Ende '86 jedoch weitere 10.000 entlassen. Wenn Sie die Geschichte Flints erzählen wollen: Hier haben Sie die Geschichte Flints."
Was mit "Hier" gemeint ist – der Film "Roger and me" oder die Person Michael Moore, die Harlan Jacobson bei dieser Antwort gegenübersitzt –, macht keinen Unterschied. Denn Moores Ich behauptet durch seine biografischen Verbindungen ziemlich überzeugend, die Stadt Flint zu sein. Es ist die Rolle seines Lebens. Aber gerade weil "Roger and Me" so ein Erfolg wird, macht Michael Moore aus sich ein Markenzeichen und tritt künftig nicht nur als Flint auf.
Er spaziert vielmehr, ob zunehmender Leibesfülle leicht wiedererkennbar, nach Washington. Moore popularisiert den Dokumentarfilm in ungeahnter Weise, gewinnt Oscar, Goldene Palme und Massen an Zuschauern: der Film "Bowling for Columbine", in dem es um die amerikanische Waffenindustrie und Kriegsmaschinerie geht, spielt im Jahr 2002 60 Millionen Dollar ein, "Fahrenheit 9/11" über die Verlogenheit der Bush-Administration zwei Jahre später sogar fast das Vierfache. Michael Moores Ich, die zarte biografische Flint-Verkörperung, ist da längst ausgewachsen zu einem Super-Ego: gerade groß genug, um es als medialer Gegenspieler anstelle der geschlagenen Demokraten mit dem frischgewählten Präsidenten George W. Bush aufzunehmen.

Bei Moore wird das Ich zum Akteur der Geschichte

Michael Moore ist das Hollywood unter den Dokumentarfilmemachern, sein Ich ein Blockbuster. Bei ihm wartet das dokumentarische Bild nicht mehr darauf, dass es die Betrachterin informieren oder bilden kann, dass es einer Aufklärung dient, die sich nach der Rezeption des Films ereignet. Bei Michael Moore wird das Ich zum Akteur der Geschichte.
Die Genese dieser Erzählweise hat mit spezifisch amerikanischer Mediengeschichte zu tun: der Prominenz des Presenters, also der Person, die ins Mikrofon spricht, und dem Begriff von Unterhaltung, der sich auch mit Nachricht und Interview verbindet. Und mit Mediengeschichte: der Demokratisierung von Technik.
"Man kann ja bei der Fotografie anfangen."
Peter Badel, Kameramann:
"Da gab's zuerst die Metallplatte, die man dann in einem goldenen Rahmen oder Lederetui bekam, Daguerreotypie, und dann hat man das aufgeklappt, betrachtet, herumgegeben und wieder gut weggepackt. Weil's ja auf Dauer doch lichtempfindlich war. Und später ist man zum Fotografen gegangen, in der Regel zum Hoffotografen oder Stadtfotografen und hat dann diese dicken Bilder auf Pappe bekommen, die dann in so ein Album eingeschoben wurden auf Prägedruck und in der Mitte wurde die Fotografie eingeklebt. Und so weiter … und heute sind wir beim Selfie an der Stange."
Die Technik wendet sich also zwangsläufig dem Menschen zu – und wenn er niemanden mehr braucht, um ein Bild von sich zu machen, dann macht er erst recht kein Bild von etwas anderem. Die Point-of-View-Kamera auf dem Helm, die den Tunnelblick auf die Welt mitschneidet. Die Body-Cam, die das Sichtfeld filmt. Der Selfie Stick, der ein Spiegel ist, in den man sprechen kann – das massenhaft hergestellte und massenhaft abgerufene Footage auf YouTube sagt immer nur: Ich.
"Ich fahr nach Kassel
Ich habe keine Zeit
Ich krieg die Haare gemacht
Ich war jetzt schon lange nicht mehr hier, aber vor der Gamescom, wenn ich die ganzen Leute treffe, muss ich natürlich wieder aussehen wie ein Mensch
Ich will's jetzt nicht so lang halten"
Es ist die gleiche Bewegung, die den Apparat zur Herstellung eines Dokumentarfilms an Schwere verlieren und die Erzählerinstanz prekärer werden lässt.
Während die Wochenschauen der Wirklichkeit noch pathetische, staatstragende Bilder abringen, die für alle gut sein sollen, ist die Technik im Direct Cinema ab den sechziger Jahren so disponibel, dass sich anderen Leuten zugewandt werden kann. Und heute? Peter Badel:
"Heute kann man in den Media-Markt, die Kamera ausleihen, 14 Tage verwenden, Oma, Opa, sich selbst aufnehmen, Freundin, was auch immer, und danach sagen, ich komm nicht klar mit der Kamera und gibt sie wieder ab, fast kostenfrei möglich einen wichtigen Film zu machen, das ist schon neu und anders und schön."

Welches Ich erzählt also am interessantesten?

Wenn aber jedes Ich in die Welt sprechen kann, wem soll man dann zuhören? Welches Ich macht sich interessant? Die Konkurrenz der Sprechermöglichkeiten ist am dichtesten in den sozialen Netzwerken, auf Videoportalen. Für eine Weile mag der Dokumentarfilm noch als etwas anderes, Ferneres erscheinen, das wir zuerst mit dem Kino, dem Fernseher assoziieren. Dabei gibt es eigentlich nur noch Bildschirme, auf denen alles miteinander um Aufmerksamkeit streitet. Welches Ich erzählt also am interessantesten?
"Ich glaube, die Frage ist die nach der Relevanz."
Der Medienjournalist Klaus Raab:
"Was ist relevant, und wie relevant ist das, was man zu erzählen hat. Man kann natürlich jeden Mist in die Welt rausblasen, die Frage ist halt, waren Journalisten früher so genau dabei Relevanz zu erschaffen wie es heute in dieser gemeinsamen Social-Networks-und-Massenmedien-Welt geschieht. Da wirkt ja das eine aufs andere zurück. Und wer herausfindet, was relevant ist, und was viele Leute interessiert, und worauf viele reagieren werden, der hat sozusagen auch ne ganz gute Möglichkeit, gehört zu werden. Während Leute, die irgendwas erzählen, auch nicht gehört werden. Das sortiert sich dann auf einem ganz natürlichen Weg aus."
Relevant sind etwa weltumspannende Zusammenhänge, die sich an konkreten Beispielen wie Ernährung, Energie oder Wasser darstellen lassen. Solche globalisierungskritischen Wirtschaftsgeschichten bilden seit mehr als zehn Jahren eine Spielart des Dokumentarfilms, Filme wie Erwin Wagenhofers "We feed the World" von 2005, den im deutschsprachigen Raum allein 600.000 Besucher sehen wollten.
Vielleicht ist die Relevanz sogar ein Problem dieser Filme: Gerade weil sie versuchen, Aspekte unseres täglichen Lebens in ihren Konsequenzen bis ans andere Ende der Welt zu verfolgen, bekommt die Zuschauerin Probleme, sich darin selbst zu wiederzufinden. Das Erzähler-Ich verspricht dann Orientierung und Emotionalisierung, und es definiert in der Nachfolge Michael Moores einen bestimmten Stil des Aktivismus.
"Vor etwa drei Jahren, als ich gerade schwanger war, erzählte mir Cyril von einer Studie. Sie kam zu dem Schluss, dass mein Sohn in einer Welt aufwachsen würde, in der Nahrung, Wasser und Öl knapp sind. – Damals leitete ich eine Non-Profitorganisation. Ich fragte mich, wie können wir Millionen von Menschen, die von Katastrophen sowieso schon genug haben, mit einer solchen Nachrichten erreichen. – Wir mussten etwas tun. Also machten wir uns auf den Weg, um nach Leuten zu suchen, die auf der ganzen Welt kreative Lösungen anbieten."
So verdichtet der Trailer zu dem kürzlich gestarteten Film "Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen" dessen Programm. Eines der beiden Erzähler-Ichs gehört hier der Schauspielerin Melanie Laurent, die durch Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" bekannt geworden ist. Ihre Prominenz stellt Laurent in den Dienst eines Dokumentarfilms, wobei sie als everybody's junge Mutter niedrigschwellig Wert auf ihre Gewöhnlichkeit legt, kein Ökofreak und keine Aktivistin sein will. Entsprechend entwirft "Tomorrow" mit schicker Typografie, einfühlsamer Musik und einer zeitgemäß impressionistischen Kamera das Äquivalent zum aus viel Holz gezimmerten Großstadtcafé, das Natürlichkeitssuggestion, Stilbewusstsein und Genuss miteinander verbindet. Dadurch unterscheidet sich "Tomorrow" von dem ebenfalls erst kürzlich herausgekommenen, ziemlich ähnlichen Dokumentarfilm: "10 Milliarden. Wie werden wir alle satt" von Valentin Thurn.
"Wenn ich mir anschaue, wie die Weltbevölkerung wächst und wächst, wie es immer enger wird auf unserer Erde, dann frage ich mich, werden wir in Zukunft genug Nahrung für alle haben. Ich mache mich auf eine Reise rund um die Welt, um dieser Überlebensfrage nachzugehen ... Das Problem ist riesig, und ich frage mich, wie soll die Landwirtschaft es schaffen, uns alle zu ernähren, wenn die Weltbevölkerung bis Mitte dieses Jahrhunderts auf zehn Milliarden anwächst."
Der Ton ist deutlich biederer, Valentin Thurn muss, anders als Melanie Laurent, keinen Glamour runterrüsten auf ein Normalniveau – er verströmt bereits eine leicht langweilige Gewöhnlichkeit. Im Arrangement seiner Recherche ist genau das der Ton, der mit den kleinen und lokalen Initiativen korrespondiert, die "zehn Milliarden" vorstellt.
"Mich beeindruckt der Stolz von Fanny auf ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit. Sie hat mir klar gemacht, dass die Lösung gar nicht so kompliziert ist."
Das Ich ist in diesen Filmen lediglich eine Echo einer Autorenfigur, in Wahrheit organisiert es die narrative Logistik – als Erzählzentrale, in der resümiert wird, was gerade zu sehen war, und in der die verschiedenen Episoden zusammenlaufen.
"Im Süden von England besuche ich einen Visionär, der ein Gegenmodell zu den globalen Finanzmärkten entworfen hat. Er hat die Bewegung der Transition Towns gegründet, die mehr Unabhängigkeit anstreben, insbesondere bei der Lebensmittelversorgung."
Das wird besonders deutlich an einer Figur wie Rob Hopkins, den beide Filmen ins Bild setzen. Hopkins ist Erfinder des Totnes-Pounds, einer lokalen Währung, die das Geld in der kleinen Stadt hält:
"So all it can do is cycle locally to make this town thrive not to disappear off to distant companies and offshore banks. And what we want money to do in a more resilient economy is to cycle as many times as it can."
Und nicht nur das: Der Eintrag von Rob Hopkins in der International Movie Database verzeichnet noch sechs weitere Auftritte als "himself" in ähnlichen Kontexten. Für Dokumentarfilme, die für Nachhaltigkeit werben, ist das eine miese Bilanz. Was spräche denn gegen das Remake eines Dokumentarfilms? Also bereits vorhandenes Material zu verwenden oder Hopkins um ein selbstaufgezeichnetes Statement zu bitten, das dann in den jeweiligen Film montiert wird? Das läge auf der Ebene der Erzählung, weil es Produktionsetats schonen, Reisekosten sparen würde. Wenn aber jeder neue Film über einen bewussten Umgang mit Ressourcen aufbricht, damit sein Autoren-Ich Rob Hopkins die Hand schütteln kann, ist dieses Ich eben nicht mehr als eine Geste.
Müllforscherin Felicitas Schneider vom Wiener Institut für Abfallwirtschaft in einer Szene des Dokumentarfilms "Taste the Waste" von Valentin Thurn
Müllforscherin Felicitas Schneider vom Wiener Institut für Abfallwirtschaft in einer Szene des Dokumentarfilms "Taste the Waste" von Valentin Thurn© W-film
Das heißt: Wenn man es so einseitig sieht, sieht man es vielleicht auch falsch. Denn in dem Willen, Rob Hopkins zu treffen als eigener Film zeigt sich etwas, das charakteristisch ist für unsere Zeit: das gesellschaftliche Ich, das als Valentin Thurn oder Melanie Laurent Dokumentarfilme macht, ist eine soziale Kategorie.
"Kein soziales Netzwerk funktioniert ohne die anderen Leute, die da auch sind. Jeder stellt sich selbst dar, aber er stellt sich natürlich in der Gruppe dar, in der er sich darstellen möchte. Ich glaube, dass das immer der Wunsch nach Gemeinschaft ist, ich glaube dass das Ich, bei allem, was man sagen kann über bescheuerte Selfie-Sticks oder über Selbstdarstellung und über Selbstoptimierungswahnsinn, dass das trotzdem insgesamt eher ein positives Ich ist und kein negatives wie man das noch vielleicht noch zu New-Economy-Zeiten sehen konnte ..., das ist abgelöst durch den Versuch, sich wieder in Gruppen zu finden, und das ist schwieriger geworden als vor dreißig Jahren, oder vor 40, oder auch vor 20, und ich glaube, die digitale Organisation, die nicht eben nur im Internet stattfindet, sondern auch in der Welt, in der wir atmen, die ist dafür zumindest ein Vorbild. So kann es funktionieren."
Kleiner Rückblick: Nicht vor 20, vor 40 Jahren achtete Kameramann Peter Badel darauf, Abstand zu halten zum großen Wir der DDR. Badel arbeitete gemeinsam mit dem Regisseur Thomas Heise, der seinem Rausschmiss an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg durch den eigenen Abgang zuvorgekommen war. Für das Staatliche Filmarchiv drehten Heise und Badel als Auftakt ihrer bis heute währenden Zusammenarbeit "Das Haus 1984" und "Volkspolizei", zwei ungerührte Innenansichten über die DDR-Verwaltung, aufgenommen gegen deren Intention.
"Thomas Heise und ich, wir kommen aus der DDR, da gab's so eine, also von uns, einer der verlogensten Losungen, die wir immer nur als Persiflage empfunden haben, die hieß: Vom Ich zum Wir. Also der Kollektivierungsmechanismus sollte so sein, dass du glaubst, wenn du dein Ich stärkst, dann wird das Wir stärker. Das mag objektiv stimmen, aber eigentlich war's ja andersrum. Eigentlich gab's ja erst das Wir und das bisschen Ich wurde dann sozusagen aufm Claim abgesteckt. Und das haben wir nicht gemocht. Also ich wüsste nicht, welcher wichtige DDR-Filmer von sich erzählt hat."

Vom Ich zum Wir

Heute lehrt Badel selbst, kennt die Filmakademie Ludwigsburg als Dozent, ist Professor im Studiengang Kamera in Babelsberg. Und sieht das mit dem Ich, das sich verbinden will, ganz ähnlich wie der Digitalisierungsbeobachter Klaus Raab:
"Man sucht nach filmischer Innovation und man sucht dadurch, was kann man über sich, vor allem über seine Generation erzählen. Das Ich ist eigentlich mehr, so komisch wie es klingt, vom Ich zum Wir, die meinen eigentlich ein Wir-Gefühl, was machen wir für Filme, wo werden wir gebraucht, was ist für uns politisch. Und das finde ich eigentlich ganz belebend."
Das Ich kann heute also durchaus ein Gemeinplatz sein, um dokumentarisch in die Welt zu schauen. Es ist leichter geworden, Ich zu sagen. Und es macht es teilweise leichter, ein Projekt finanziert zu bekommen von Fördergremien. Weil die sich etwas vorstellen können müssen unter Projektbeschreibungen, weil in der deutschen Filmbürokratie das Geld dahin geht, wo auf Berechenbarkeit zu hoffen ist. Wer von sich spricht, weiß wovon er redet. Und das Ich verspricht Nähe, Intimität, etwas, wo der Dokumentarfilm einmal seine Grenze hatte.
Besonders vielversprechend in dieser Logik sind Kinder von Prominenten, die Film studieren. Igor Heitzmann, der in "Nach der Musik" endlich Sohn seines Dirigentenvaters Otmar Suitner sein darf, der während der deutschen Teilung zwei Familien hatte – eine in Ost-Berlin und eine in West-Berlin, wo er wochenends Igor und dessen Mutter besucht. Oder Simon Brückner, der im letzten Jahr den Film "Aus dem Abseits" gemacht hat, Spurensuche eines spätgeborenen Sohns nach dem Vater – Peter Brückner:
"Wo ich nach meinem Vater suche, begegne ich einer öffentlichen Figur, einem Wissenschaftler und Schriftsteller, dem Vorreiter einer gesellschaftskritischen Psychologie, der während der 70er-Jahre zu einer Ikone der linken Protestbewegung wurde."
"Nach der Musik" und "Aus dem Abseits" sind Filme mit Reizen, in denen die Nähe der Ich-Erzähler zu ihren Protagonisten allerdings mehr Probleme produziert als Erkenntnis: Klatsch, Gossip, human Touch.
Und viele holen es aus sich, weil es auch schick ist, ein bisschen, und unterschätzen meiner Meinung nach völlig, in welche Schwierigkeiten sie sich damit bringen. Nämlich dass sie gleichzeitig so ne Glaskugel aufbauen, die man zwar schütteln kann, dass dann dramatisch was passiert, aber es bleibt so n bisschen diese Welt, die man in der Hand hält und betrachtet, und es ist ganz schwer, sich selbst da einzuordnen.
Der größte Glaskugelweltenschüttler des aktuellen deutschen Dokumentarfilms ist David Sieveking. Der Regisseur macht nur Filme über Themen, zu denen er du sagen kann: "Senegallemand", der Abschlussfilm 2007, handelte von der Beziehung seiner Schwester zu einem Mann aus dem westafrikanischen Land, "Vergiss mein nicht" fünf Jahre später von der Demenz der Mutter. Und "Eingeimpft", das Projekt, an dem Sieveking gerade arbeitet, soll die Diskussion ums Impfen als innerfamiliären Disput erzählen. Attraktiv ist die Erzählweise wegen der arglos wirkenden Nähe, die sie fortwährend herstellt wie am Anfang von "Vergiss mein nicht":
"Seit den ersten Anzeichen von Gedächtnisproblemen meiner Mutter sind mittlerweile vier Jahre vergangen. Mein Vater sagt, die Diagnose sei definitiv Alzheimer. In den letzten Jahren war ich selten bei meinen Eltern. Jetzt will ich mir mehr Zeit für sie nehmen und hoffe, dass ich helfen kann."

Sievekings Ich ist eine Fiktion, eine Setzung

Wie aufrichtig solch ein Off-Kommentar ist, ist die entscheidende Frage, die zum Zweifel an Sievekings Filmen führt. Denn die bringen das Kalkül ihrer Gemachtheit zum Verschwinden, weil sie immerfort suggerieren, es spräche aus dem Ich nur die Sorge des Sohns oder Bruders und nie das Interesse des Filmemachers. Dabei ist Sievekings Ich auch eine Fiktion, eine Setzung, die die Erzählhaltung des Films stützen soll. Und, mittlerweile, für Trademarkstabilität sorgt – Sievekings Filme erkennt man daran, dass der Autor selbst in ihnen herumspringt und permanent Ich sagt.
Gleichzeitig steckt darin die Genese eines Künstlertums. "David wants to fly" aus dem Jahr 2010, der Film, mit dem Sieveking hervorgetreten ist, erscheint als eine ziemlich clevere Begründung des eigenen Künstlertums.
"Marie war erst vor Kurzem bei mir eingezogen. Ich fand das großartig, aber ganz einfach war es nicht. Sie schrieb bereits an ihrem zweiten Roman, während ich nach der Filmakademie nicht wirklich weiterkam. Die Miete bezahlten immer noch meine Eltern."
Der Film erzählt eine Identitätskrise, privat und beruflich, aus der sich Sieveking an den Haaren seines unter anderem durch Poster in der Wohnung behaupteten Idols ziehen will – er sucht die Nähe zum Filmemacher David Lynch, der nicht nur für "Twin Peaks" und "Lost Highway" bekannt ist, sondern auch der Transzendentalen Meditation anhängt, einer gurugetriebenen Selbstverbesserungsesoterik. Die probiert Sieveking aus mit, natürlich, desillusionierendem Ergebnis.
Der Regisseur David Sieveking mit dem Hessischen Film- und Kinopreis 2012 in der Kategorie Dokumentarfilm für sein Werk "Vergiss mein nicht"
Der Regisseur David Sieveking mit dem Hessischen Film- und Kinopreis 2012 in der Kategorie Dokumentarfilm für sein Werk "Vergiss mein nicht"© picture alliance / dpa / Nicolas Armer
Was dem Film dagegen oder besser dadurch gelingt: sich als Künstler-Ich gegen das prominente Vorbild zu entwerfen. Alles in "David want to fly" könnte Konstruktion sein. Aber am Ende funktioniert der Film als grandiose Selbstpromotion, und der, wie bei Michael Moore abgeschaut, doppeldeutige Titel beschreibt nicht nur Lynchs Irrglaube, sondern auch Sievekings Ambitionen: "David wants to fly". Über den Preis dafür, die Selbstausbeutung, reden wir ein andermal.
Und wie hören wir jetzt auf? Noch eine Schnurre aus dem unglaublich aufregenden Leben meines Autoren-Ichs? Dürften Sie nach all dem, was Sie gerade gehört haben, doch nicht erwarten. Auch wenn ich nicht weiß, was ich ohne es wäre.
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