Dunkle Biodiversität

Die unsichtbare Vielfalt des Lebens

Dunkle Biodiversität: Zu schauen, welche Lebewesen in einer Region leben könnten, aber dort nicht zu finden sind.
Dunkle Biodiversität: Zu schauen, welche Lebewesen in einer Region leben könnten, aber dort nicht zu finden sind. © picture alliance / dpa / Nicolas Armer
Von Uwe Springfeld |
Dunkle Biodiversität beschreibt, welche Arten in einem Biotop leben könnten, sich dort aber nicht aufhalten. Forscher hoffen, so die Lebensgrundlagen des Menschen besser erhalten zu können. Doch das Wie ist umstritten - zum Beispiel, ob der Mensch überhaupt als Teil der Natur zu sehen ist.
Was für ein Augenschmaus, der botanische Garten der Universitätsstadt Tartu in Estland: 200 verschiedene Rosenarten, Beete voller Hortensien mit kugelförmigen Blütenbüscheln, überall buntblühende Hahnenfußgewächse, Klematis. Dann wieder ungezählte Farne und Moose, ein Steingarten für alpine Pflanzen, ein großes Areal europäischer Bäume und Büsche, dass man sich vorkommt wie bei Mutter Natur zuhause. Nordamerikanische Holzgewächse, ein Teich mit typischen Sumpflandpflanzen, man kann sich nicht satt sehen. Und mittendrin – Meelis Pärtel. Biodiversitätsforscher an der Universität von Tartu in Estland.
"Das haben wir über die Vielfalt in der Natur gelernt: Wir wissen, dass verschiedene Pflanzen unterschiedliche ökologische Bedingungen brauchen. Das macht das Konzept der dunklen Biodiversität für uns so einfach",
erklärt der Forscher, während er aus dem deftigen Grün-Bunt zwei Stockwerke hoch in sein eintönig graubraunes Resopal-Büro mit einer halb verhungerter Yucca-Palme auf dem Fensterbrett geht. Mit Blick auf dieses Kummergewächs fragt man sich unwillkürlich: Warum blühen hier keine bunten Tulpen, Allia und Schachblumen. Keine Aronstäbe, keine Süß- und Sauergrasgewächse und Milchsterne?
Doch sobald der Biodiversitätsforscher auf sein Forschungsthema zu sprechen kommt, liegt die Antwort auf der Hand. Denn Meelis Pärtel interessiert sich nicht nur dafür, was er sieht, sondern auch das, was er nicht sieht. Was möglichweise, was vielleicht wachsen könnte. Was in Wirklichkeit aber nicht vorhanden ist, weil es ausgerottet, ausgewandert verdrängt oder schlicht: weil es nur ein paar Meter neben einem Areal wächst, in dem seine Studenten und Doktorranden die Organismen katalogisieren.
"Wir haben verschiedene Arten gesammelt, von denen einige häufig zusammen vorkommen. Wenn wir von denen jetzt nur die einen beobachten, aber nicht deren Freunde, dann können wir die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der sie vorkommen müssten. Ist diese Wahrscheinlichkeit hoch genug ist, können wir sagen: Diese Arten sind Bestandteil einer dunklen Biodiversität."
Dieses Nicht-Auffinden von Pflanzen und Tieren, so der Forscher, diese unsichtbare, nicht vorhandene – oder wie Meelis Pärtel es nennt – dunkle Biodiversität, sagt auch etwas über ein Biotop aus. Nämlich, wie vollständig oder wie geschädigt es ist. Ob man große oder nur kleinere Anstrengungen unternehmen müsste, es in einen guten, naturnahen Zustand zu versetzen. Und mehr. Aus der Betrachtung dessen, was sie nicht in einem Biotop finden, könnten die Wissenschaftler eine vollkommen neue Methode für die Biodiversitätsforschung entwickeln. Ein Verfahren, dass ihnen das heute Unmögliche gestattet. Sie könnten vollkommen verschiedene Biotope wie beispielsweise eine Wüstengegend mit einer Sumpflandschaft miteinander vergleichen und sagen, welche in einem besseren Zustand ist und welche unbedingt Hilfe braucht.

Hilfsmittel für Politik und Umweltschutz

Für solche Probleme hat die Biodiversitätsforschung heute keine Werkzeuge entwickelt. In der Öffentlichkeit schaut man oft auf den Artenreichtum einer Region. Und schließt: Je artenreicher, desto wertvoller. Doch Meelis Pärtels Untersuchungsgebiet beispielweise, der Wald bei Elva-Vitipalu, kann einen ähnlichen Artenreichtum aufweisen wie ein wahlloses, brachliegendes und zugekrautetes Baugrundstück in der Innenstadt einer beliebigen Metropole. Letzteres allerdings mit ökologisch deutlich weniger wertvollen Arten. Schaut man auf die Organismen, die in einem Biotop nicht auftauchen, dort aber sein müssten, lässt sich daraus der ökologische Wert eines Biotops berechnen, sagt Meelis Pärtel.
Das Vergleichsverfahren nach Meelis Pärtel: Suche ein Biotop auf und liste alle vorhandenen Arten auf. Vergleiche sie mit der Liste aller Arten, die man dort erwarten könnte, aber – Stichwort dunkle Biodiversität – nicht vorhanden sind. Die also mit gewisser Wahrscheinlichkeit fehlen. Dann kann man kalkulieren. Etwa: Wie viel von dem, was da sein müsste, ist tatsächlich vorhanden? Je vollständiger ein Biotop, desto besser. Je unvollständiger, desto schlimmer.
Biodiversitätsforschung ist eine angewandte Wissenschaft. Ihre Beschreibungen und Auflistungen dienen beispielweise Politik und Umweltschutz als Hilfsmittel, die biologische Vielfalt der Natur zu erhalten und Maßstäbe zu entwickeln, wie man in die Natur eingreifen darf. Wird man künftig Biotope berechnen können, heißt das nichts anderes, als dass man die Natur kalkuliert, bemisst und letztlich mathematische Maßstäbe dafür entwickelt, wann ein Stück Natur vollständig ist und wann geschädigt. Lässt sich die Natur derart von Wildwuchs beschneiden, auf ein einziges Maß bringen, standardisieren, normieren? Was ist das überhaupt, Natur?
Die Vorstellungen gehen auseinander. Sollte man den Menschen mit dazuzählen? Ein – was oft betont wird – Säugetier wie alle anderen. Sind also die Versuche des Säugetiers Mensch, sich beispielsweise ein eigenes, artgerechtes Habitat zu schaffen, als natürlich zu betrachten?

Kritik: Natur lässt sich nicht normieren

Für Menschen gibt es nur ein Argument, die Natur zu schützen. Ohne sie würde man die eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Deshalb ist Biodiversitätsforschung wichtig. Darin liegt auch die Bedeutung des Forschungsansatzes der dunklen Biodiversität. Meelis Pärtel hatte ihn vor Jahrzehnten entwickelt. Jetzt stehen auf den Publikationen Koautoren unter anderem aus Groß Britannien, Deutschland und Schweden. Trotzdem ist fraglich, ob sich dieser Ansatz auch weltweit, also auch bei Forschern aus den USA durchsetzt. Denn noch sind einige grundlegende Fragen ungeklärt.
Etwa: Wie wollen die Forscher sagen, welche Organismen in einem Biotop fehlen? Welche Arten sind auf natürlichem Weg zugewandert, welche sind zu viel, weil vom Menschen eingebracht? Das Problem: Die Forscher wissen nicht, was eine unberührte Natur ist. Deshalb können sie auch nicht sagen, welche Veränderungen eines Biotops natürlich sind, welche von Menschen verursacht.
Ob sich die dunkle Biodiversität als Forschungsmethode endgültig durchsetzen wird? Die Biodiversitätsforscher werden noch lange diskutieren. Das wird deutlich, wenn man von Tartu nach Halle reist, um den Biodiversitätsforscher Ingolf Kühn vom größten deutschen Forschungsinstitut in Sachen Biodiversität, dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle nach seiner Meinung zu fragen.
Natur lasse sich nicht einfach normieren, auf Maß bringen, formuliert der Forscher seiner Kritik. Sie sei ein Prozess, in permanenter Veränderung. Während der letzten Eiszeit haben sich beispielweise bestimmte Arten der Eiche über die Alpen zurückgezogen. Jetzt haben die Pflanzen Probleme zurückzukehren. Ihre Samen sind zu schwer, als dass Tiere sie über die Bergpässe transportieren. Wo soll man also den Schnitt setzen? Was genau soll man messen?
"Wie groß setzt man beispielweise den räumlichen Bezugsraum an? Können alle Arten, die in Deutschland vorkommen, hier vorkommen? Dann ist die andere Frage auch – das ist ein zeitlicher Bezugsrahmen. Sind nur die Arten, die innerhalb der letzten 30 Jahre – oder sind diejenigen Arten, die in den letzten 500 Jahren hier vorgekommen sind, diejenigen, die zum potentiellen Artenpool gehören?"
Vielleicht gelingt es der Forschergemeinde, sich auf Standards einer unberührten Natur zu einigen. Dass die Biodiversitätsforscher verbindlich übereinkommen, was sie von der Natur erwarten und was nicht. Dann, und nur dann wird der Forschungsansatz der dunkeln Biodiversität in eine Theorie hineinwachsen, die sich tatsächlich anwenden lässt. Bis dahin ist es ein Gedankenspiel – ein spannendes.
Das komplette Manuskript im pdf- und barrierefreien txt-Format
(abr)
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