Düsteres Bild der arabischen Gesellschaft

06.03.2013
Die äußerst strenge Sexualmoral in Ägypten muss sich lockern, davon ist Shereen El Feki überzeugt. Denn allein ein politischer Wandel helfe den Menschen nicht. In ihrem anekdotenreichen Buch über unbefriedigenden Sex in der Ehe und unerlaubten Sex vor der Ehe verurteilt sie die Gesellschaft dennoch nicht, sondern will helfen, sie zu verstehen.
In der Aufbruchsstimmung des Arabischen Frühlings vor zwei Jahren konnte man, Liebespärchen Hand in Hand über den Tahrir-Platz in Kairo schlendern sehen. Das war ein politisches Statement: Viele junge Menschen hofften nicht nur auf größere persönliche Freiheit, sondern auch auf eine Lockerung der in Ägypten noch immer äußerst strengen Sexualmoral. Dass letzteres in der arabischen Welt ebenso schwer, wenn nicht noch schwerer, zu erreichen sein wird wie die politische Demokratisierung, davon erzählt Shereen El Feki in ihrem Buch "Sex und die Zitadelle".

Angst vor Sexualität ist groß
Die Halb-Ägypterin hat lange nach Forschung zum Thema gesucht, wenig gefunden, und sich darum selbst auf den Weg gemacht. Sie befragte Wissenschaftler, Kulturschaffende, Therapeuten, Ärzte und Beamte, aber auch einfach Menschen, die sie auf der Straße traf oder die sie persönlich kannte. Herausgekommen ist ein anekdotenreiches und faszinierendes Buch, in dem die Autorin Erzählungen über unbefriedigenden Sex in der Ehe und unerlaubten Sex vor der Ehe zusammenträgt, und über islamische Sexualtherapeuten, libanesische Pin-up-Girls, konservativ-muslimische TV-Ratgeber und anderes berichtet.

Ihr Buch zeichnet ein eher düsteres Bild: Die Angst vor der Sexualität ist in der ägyptischen Gesellschaft, wie überhaupt im ganzen arabischen Raum, enorm groß. Außereheliche Beziehungen werden sozial sanktioniert und selbst innerhalb der Ehe wird über Sex kaum gesprochen. Weibliche Genitalverstümmelung, Jungfernhäutchen-Überprüfungen und Polizeigewalt gegen Schwule mögen zwar offiziell jeder gesetzlichen Grundlage entbehren, im Alltag sind sie aber gang und gäbe.

El Feki vermeidet vorschnelle Verurteilungen
El Feki, die sich als Gesellschaftserforscherin in der günstigen Lage befindet, sowohl als westlich erzogene Außenseiterin wie aber auch als arabisch sprechende Ägypterin aufzutreten, berichtet über all diese Dinge nicht im Tonfall der moralischen Empörung, sondern mit bemerkenswerter Neutralität, und oft sogar mit Humor.

Vorschnelle Verurteilungen und einen allzu westlich geprägten Blick auf die arabischen Traditionen vermeidet sie bewusst, und darin liegt eine große Qualität ihres Buches. Es geht ihr nicht so sehr um die Kritik, sondern mehr um das Verstehen. Vor allem ist sie an den individuellen Freiräumen und Kompromissen, von denen ihr die Menschen erzählen, genauso interessiert wie an der von ihr analysierten gesamtgesellschaftlichen Unterdrückung der Sexualität.

Aufschlussreich sind dabei immer auch die eingestreuten historischen und religiösen Informationen zur islamischen Sexualmoral, die durchaus nicht immer so rigide war wie heute. Das Buch ist voller Verweise auf die arabische Erotik-Tradition und die grundsätzlich positive Einstellung zur Sexualität, welche den Islam in früheren Jahrhunderten oft in Konflikt mit dem theologisch prinzipiell sexualfeindlicheren Christentum brachten. Davon, so zeigt Shereen El Feki überzeugend, ist heute nicht viel übrig geblieben. Aber sie lässt keinen Zweifel daran: Der Weg zur politischen Befreiung kann nur mit einer Befreiung der Sitten, der Geschlechterverhältnisse und der Sexualität zusammen gehen.

Besprochen von Catherine Newmark

Shereen El Feki: "Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt"
Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt
Hanser, Berlin 2013
416 Seiten, 24,90 Euro

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