Dschihadismus in Europa

Typologie des Radikalismus

Polizisten führen bei einer Razzia gegen Islamisten am 04.02.2016 in Berlin einen mit einem Tuch verdeckten Verdächtigen ab. Bei Razzien in mehreren Bundesländern hat die Polizei mehrere Islamisten festgenommen, die ein Attentat in Deutschland oder im europäischen Ausland geplant haben sollen
Polizisten führen bei einer Razzia gegen Islamisten einen Verdächtigen ab, © dpa/picture-alliance/Paul Zinken
Peter Neumann im Gespräch mit Nana Brink · 13.10.2016
Der Fall des jungen Syrers Jaber al-Bakr, der sich in einer Haftzelle das Leben genommen hat, wirft viele Fragen auf: Wie und wo radikalisieren sich junge Islamisten? Der Politikwissenschaftler Peter Neumann meint: Es gebe immer bestimmte Bausteine für die Radikalisierung.
Auch wenn viele Menschen den Gedanken nicht an sich heran lassen: Der (knapp vereitelte) Terror ist auch unter uns. Nun beschäftigt Sicherheitsexperten die Frage, wie und wo Jaber al-Bakr, der junge Syrer, der von der Polizei in Sachsen gefasst wurde und nun unter noch ungeklärten Umständen in seiner Zelle Selbstmord begangen hat, sich radikalisiert hat: in Syrien, in der Türkei - oder erst in Deutschland.
Für Peter Neumann, Direktor des "International Center for the Study of Radicalisation" am Londoner King’s College und Islamismusspezialist, ist das Phänomen Dschihadismus/Radikalisierung - gerade auch von jungen Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, ein immer noch schwer fassbares und eingrenzbares Phänomen:
"Dass sich Menschen radikalisieren, dafür gibt es keine einfache Antwort, keine Formel. Wenn es so wäre, wäre das Problem leichter zu lösen. Es gibt ganz bestimmt Bausteine. Radikalisierung hat immer was mit Frustration zu tun, es hat was mit persönlichen Bedürfnissen zu tun, nach Abenteuer, Ruhm, Gemeinschaft, Orientierung, Identität. Bei Männern auch nach Maskulinität."

"Einsame Wölfe" sind selten

Jedenfalls seien unter den Radikalisierten die "einsamen Wölfe", von denen häufig die Rede sei, viel seltener, als allgemein angenommen. In seinem Buch "Der Terror ist unter uns: Dschihadismus und Radikalisierung in Europa", das am 14. Oktober 2016 erscheint, beschreibt Neumann verschiedene Typen von Radikalisierten:
"Also Frauen, die wir jetzt häufiger sehen in Radikalisierungsverläufen, oder auch Kleinkriminelle. 66 Prozent, also zwei Drittel der Deutschen, die in den Islamischen Staat gefahren sind, waren polizeibekannt, ein Drittel vorbestraft. Das sind häufig kleinkriminelle Karrieren, die mit einem traumatischen Ereignis enden, und dann irgendwann sucht diese Person nach Erlösung, sucht danach, ein Projekt zu finden, das es ihr erlaubt, die Sünden der Vergangenheit wieder gut zu machen."

Peter Neumann: "Der Terror ist unter uns: Dschihadismus und Radikalisierung in Europa"
Ullstein Hardcover, 2016, 304 Seiten, 19,99 Euro


Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Die Ereignisse der letzten Tage haben es ja wieder gezeigt, der Terror ist unter uns. Gerade noch konnte ja der junge Mann aus Syrien, der sich jetzt umgebracht hat in seiner Zelle, ja festgenommen werden von seinen Landsleuten, bevor er einen Sprengstoffanschlag ausführen konnte an einem Berliner Flughafen oder vielleicht in einem Zug. Jetzt fragt sich natürlich alle Welt, woher kam er, wo hat er sich radikalisiert? In Syrien oder in der Türkei, oder vielleicht sogar hier? "Der Terror ist unter uns", so heißt auch das neue Buch von Peter Neumann, er ist Professor für Sicherheitsstudien am King's College in London und leitet das Centre for the Study of Radicalisation. Es erscheint morgen, sein Buch. Ich grüße Sie!
Peter Neumann: Guten Morgen!
Brink: "Dschihadismus und Radikalisierung in Europa", das ist der Untertitel Ihres Buches. Also ist das kein Phänomen von außen, vom Rand der Gesellschaft?

Keine einfache Formel

Neumann: Wir stellen uns das gern immer vor als Phänomen, das natürlich nichts mit uns selbst zu tun hat. Aber in Wirklichkeit ist es tatsächlich so, da haben Sie recht, der Terror kommt häufig eben auch aus der Mitte der Gesellschaft, und er kommt definitiv auch aus unseren Gesellschaften, und eine Erklärung, die immer verwendet wird, wenn etwas ganz Schreckliches passiert, ist eben genau, zu sagen, es muss von außen kommen, der kommt nicht aus unserer Gesellschaft, dieser junge Mann ist aus der Türkei. Aber in Wirklichkeit ist er ja nicht aus der Türkei. Er ist in Deutschland geboren, er ist hier aufgewachsen, hat einen deutschen Pass, spricht Deutsch. Er ist aus unserer Gesellschaft.
Eine andere Erklärung ist, zu sagen, ja, das ist ein Geisteskranker, ein Verrückter. Aber in Wirklichkeit ist das ja auch nur wieder ein Versuch zu sagen, das, was diese Person getan hat, ist so schrecklich, wir können uns das eigentlich gar nicht rational erklären. Aber in Wirklichkeit, und das ist der Punkt, bringen auch gute und normale Gesellschaften abnormales und schlechtes Verhalten hervor.
Brink: Sie haben das ja nun genau analysiert. Wie konnte es dazu kommen? Ich kann mir vorstellen, da gibt es keine einfache oder keine Schwarzweiß-Antwort?
Neumann: Dass sich Menschen radikalisieren, dafür gibt es keine einfache Antwort, keine Formel. Wenn es so wäre, wäre das Problem leichter zu lösen. Es gibt ganz bestimmt Bausteine. Radikalisierung hat immer was mit Frustration zu tun, es hat was mit persönlichen Bedürfnissen zu tun, nach Abenteuer, Ruhm, Gemeinschaft, Orientierung, Identität. Bei Männern auch nach Maskulinität. Es hat was mit Leuten zu tun, mit sozialen Umfeldern. Diese einsamen Wölfe, von denen häufig die Rede ist, die gibt es, die sind aber viel seltener, als wir uns das denken. Und es hat natürlich auch etwas zu tun mit Ideologie, mit Ideen, denn ohne Ideen und ohne Ideensystem wird aus einer Frustration kein politisches Projekt. Und diese vier Zutaten, Ideen, Leute, aber eben auch Frustration und Drang sind immer in allen Radikalisierungsverläufen vorhanden.
Brink: Aber kann man das dann eigentlich sozusagen zusammenbinden und eine Strategie dagegen entwickeln? Ich überlege mir gerade, man hat ja viel Zeit auch immer darauf verwendet, diese Radikalisierungsverläufe zu analysieren, also wie konnte es dazu kommen, dass der oder jener sozusagen sich radikalisiert hat. Wenn Sie sagen, das ist so individuell unterschiedlich, und dass es auch so viele Bausteine gibt, dann macht das ja eigentlich gar keinen Sinn.

Typische Radikalisierungs-Biografien

Neumann: Ja, es ist individuell unterschiedlich, aber es gibt schon Muster und Typen. Es ist nicht jeder Radikalisierungsverlauf ganz einzigartig. Zum Beispiel beschreibe ich in meinem Buch verschiedene Typen, also Frauen, die wir jetzt häufiger sehen in Radikalisierungsverläufen, oder auch Kleinkriminelle. 66 Prozent, also zwei Drittel der Deutschen, die in den Islamischen Staat gefahren sind, waren polizeibekannt, ein Drittel vorbestraft. Das sind häufig kleinkriminelle Karrieren, die mit einem traumatischen Ereignis enden, und dann irgendwann sucht diese Person nach Erlösung, sucht danach, ein Projekt zu finden, das es ihr erlaubt, die Sünden der Vergangenheit wieder gut zu machen. Das sind typische Verläufe, und da kann man dann auch entgegensteuern. Aber man darf sich nicht vorstellen, dass es da eine feste Formel gibt oder einen Katalog oder ein Präventionsprogramm, das in allen Fällen hilft.
Brink: Was ist dann die Reaktion unserer Gesellschaft? Oder was muss sie sein?
Neumann: Die Absicht von Terroristen, und das sage ich ja auch immer wieder, ist, zu terrorisieren. Es geht nicht prinzipiell darum, viele Leute umzubringen, obwohl das natürlich ein Mittel der Terrorisierung ist. Der Terrorismus ist deshalb gefährlich, weil er unsere Gesellschaften zu polarisieren versucht. Er versucht Angst zu säen, Misstrauen zu säen, und er versucht eben, uns gegeneinander aufzubringen. Und die beste Reaktion auf den Terrorismus wäre oder ist nach wie vor, sich durch den Terrorismus nicht verrückt machen zu lassen, denn der Terrorismus hat die Absicht, einen verrückt zu machen, er hat die Absicht, dass Gesellschaften dann irgendwann an den Punkt kommen, wo sie dann alles nur noch schwarz und weiß sehen. Und wenn man den Terroristen diesen Gefallen nicht tut, dann verlieren die Terroristen. Deswegen, als Gesellschaft sollte man sich eigentlich gar nicht groß anders verhalten. Man sollte Muslime zum Beispiel nicht anders gegenüber treten, sondern schlicht und einfach sich durch Terroristen nicht verrückt machen lassen und nicht in ihre Hände spielen.
Brink: Also auch nicht diese Islamisierung so betonen, also so zum Beispiel anders auch über den Islam reden?
Neumann: Ich denke wirklich, für die einfachen Menschen sollte es keinen großen Unterschied geben. Natürlich, die Sicherheitsbehörden müssen ganz viel machen, und der Staat muss ganz viel machen, denn vieles funktioniert ja auch nicht. Aber für den einfachen Menschen, der ganz normal sein Leben lebt, der sollte meiner Meinung nach sein Verhalten überhaupt nicht ändern.
Brink: Der Terrorismusexperte Peter Neumann. Schönen Dank für das Gespräch. Und morgen erscheint sein neues Buch, "Der Terror ist unter uns". Vielen Dank, Herr Neumann!
Neumann: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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