Dror Mishani über seinen Roman „Drei“

    „Der Mord im Krimi sollte schocken wie im echten Leben“

    Der Autor Dror Mishani
    Den Schriftsteller Dror Mishani faszinieren normale Menschen, die mit dem extrem Bösen konfrontiert werden. © Lukas Lienhard / Diogenes Verlag
    Dror Mishani im Gespräch mit Martin Stengel · 02.12.2020
    Welchen Vorteil hat es, wenn man bei einem Krimi vergisst, dass es sich um einen Krimi handelt? Der israelische Autor Dror Mishani über ganz normale Menschen und das Böse, über den Tod, ungewöhnliche Erzählweisen und das Vermächtnis von Alfred Hitchcock.
    Deutschlandradio: Dror Mishani, Ihr Roman mit dem Titel "Drei" ist eine sich sehr langsam entfaltende Kriminalgeschichte. Ich habe zwischendurch sogar vergessen, dass es sich um eine Kriminalgeschichte handelt. War das von Anfang an Ihre Absicht?
    Dror Mishani: "Drei" sollte kein klassischer Kriminalroman werden. Dafür hatte ich einige Gründe. Zum einen wollte ich die Geschichte nicht – wie es klassischerweise geschieht – aus der Perspektive des Ermittlers oder des Killers schreiben. Ich wollte die Geschichte stattdessen aus dem Blickwinkel der Opfer erzählen, nicht eine Stunde oder einen Tag vor dem Verbrechen, vielmehr ein Jahr davor, um ihre Geschichten zu erzählen und um sie in ihren Leben zu begleiten. Außerdem wollte ich einen Schock durch die Gewalttat erzielen. Hierfür muss ich die Lesenden hinters Licht führen. Denn wenn man weiß, dass man eine Kriminalgeschichte liest, ist man durchgehend auf die drohende Gewalt vorbereitet. Ich wollte die Lesenden davon ablenken, damit sie nicht darauf vorbereitet sind. So schockiert die Tat wie im echten Leben.
    Deutschlandradio: Ihre Art zu schreiben, erinnert an Alfred Hitchcock: seine Art, Spannung zu erzeugen. Sie streuen kleinen Brotkrumen und Hinweise, die uns dennoch zeigen, dass wir uns in einer Kriminalgeschichte befinden: das merkwürdige Apartment, oder dass Gil irgendwie unheimlich ist. Und dann gibt es die Überraschungen am Ende der einzelnen Teile. Ist das eine Referenz an Alfred Hitchcock?
    Dror Mishani: Alfred Hitchcock ist immer eine Quelle der Inspiration und Bewunderung gewesen. Ich liebe Hitchcocks Filme deswegen, weil es Kriminalgeschichten sind, die normalen Menschen zustoßen, und darüber schreibe ich gerne. Ich schreibe nicht gerne über Kriminelle, auch wenn Mörder natürlich ebenfalls Kriminelle sind. Aber selbst ein Mörder weiß manchmal nicht, dass er ein Krimineller ist. Bis kurz vor seiner ersten Tat. Anders gesagt: Ich schreibe nicht gerne über die Welt des Verbrechens, sondern über das, was mit normalen Menschen geschieht, wenn sie mit extremer Gewalt konfrontiert sind, wenn sie auf das extrem Böse treffen. Außerdem habe ich die Struktur von "Drei" an einen bestimmten Hitchcock-Film angelehnt: an "Psycho". Ich wollte, dass sich die Lesenden mit der Hauptfigur Orna verbunden fühlen, sie mögen, mit ihr Zeit verbringen… Und dann wollte ich sie den Lesern wegnehmen – etwas, was eher selten in Filmen oder Büchern geschieht. Der Protagonist bleibt normalerweise bis zum Ende der Geschichte bei uns. Nicht so bei "Psycho": Der Film beginnt mit Janet Leigh als Marion Crane. Aber nach 35 Minuten wird die Protagonistin ermordet. Und dann gibt es eine neue Hauptfigur, Norman Bates. Das lieferte mir eine Vorlage, um den gewollten Schockeffekt zu erzeugen.
    Deutschlandradio: Die Art, wie Sie Ihren Mörder seine Opfer umbringen lassen, ist fast so, als ob er das Leben aus ihnen herauspresst, ihnen die Luft zum Atmen stiehlt. Aber es ist dennoch ein Schock und eine sehr kurze Passage. Ich war beim Nachlesen überrascht, dass die Morde einen so kleinen Teil der Geschichte ausmachen. War es anfangs länger und Sie haben es dann im Schreibprozess eingedampft? Oder war es von Anfang an so angelegt?
    Dror Mishani: In "Drei" habe ich versucht, den Moment des Todes aus der Perspektive der Opfer zu erzählen, dass man wirklich bei ihnen ist – in diesem Moment, wenn sie ihre Augen zum letzten Mal schließen. Das ist vielleicht nur ein kurzer Moment, aber es war sehr schmerzvoll, ihn zu schreiben.
    Deutschlandradio: Was fasziniert Sie denn ganz allgemein am Kriminalgenre?
    Dror Mishani: Ein guter Kriminalroman, ein guter Detektivroman befasst sich hauptsächlich mit einem Todesfall, also mit dem Ende eines einzelnen Lebens. Er versucht aufzuzeichnen, zu verstehen, was passiert ist, manchmal, was schief gelaufen ist oder zu diesem Todesfall geführt hat. Manchmal versucht er auch nur, dieses Leben in Erinnerung zu halten, das da verblasst. Das Krimigenre muss sich immer mit dem Tod konfrontieren, ihm ins Auge blicken.
    Deutschlandradio: Stichwort "mit dem Tod konfrontieren": In "Drei" treten die Toten als Erscheinungen auf. Welche Bedeutung haben diese Erscheinungen? Immerhin endet die Geschichte sogar mit ihnen, wie sie bei der Polizistin Orna am Bett stehen.
    Dror Mishani: Ich musste sie im Buch behalten. Orna und Emilia wollten nicht gehen und aus dem Buch verschwinden, obwohl sie ja ermordet worden waren. Aber ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. Also habe ich experimentiert. Beispielsweise habe ich versucht, den dritten Teil aus der Perspektive von Ornas und Emilias Geist zu erzählen. Sie hätten den dritten Teil der Geschichte selbst erzählt, aber es klappte nicht. Es fühlte sich für mich nicht richtig an. Aber dann dachte ich, nicht sie erzählen die Geschichte. Die Geschichte wird ihnen erzählt. Jemand erzählt ihnen die Story, auch wenn ich nicht weiß, wer. Vielleicht ich, vielleicht die Literatur an sich?! Wir erzählen ihnen, ihr seid nicht verschwunden. Wir erinnern uns an euch. Ihr seid noch immer hier in der Welt des Romans. Für mich sind sie eine Illusion, aber sie sind dennoch da.
    Deutschlandradio: Die Erzählinstanz ist sehr interessant – nicht nur die Frage, wer die Geschichte erzählt. Auch die Erzählzeit wechselt im dritten Teil: Über die Morde schreiben Sie als etwas Abgeschlossenes in der Vergangenheitsform. Aber dann gibt es einen Teil im Futur. Warum? Schließlich erleben wir danach den Abschluss der Geschichte wieder als etwas bereits Abgeschlossenes.
    Dror Mishani: Ich möchte ganz offen sein und erzählen, wie es dazu kam. Als ich den dritten Teil schreiben wollte, war ich mir nicht sicher, wie ich das anstellen sollte. Mein Problem war eigentlich ganz einfach: Den ersten und zweiten Teil schrieb ich aus der Perspektive von Orna und Emilia, sehr dicht an ihrem Bewusstsein, an ihrem Blickwinkel. Aber im dritten Teil konnte ich das nicht machen, weil ich sonst zu viel verraten hätte. Dann blieb ich jedoch bei der Szene von Emilias Ermordung hängen. Hier gibt der Erzähler etwas wieder, was Emilia dachte, als sie starb. Dass sie in diesem Moment alles wusste, was geschehen war und alles wusste, was noch geschehen würde. Also Vergangenheit und Zukunft. Und auf einmal dachte ich: alles, was passieren wird, also dass Gil von der zweiten Orna überführt wird, das alles ist für den Erzähler bereits irgendwie vergangen, aber für Emilia und Orna – im Moment ihres Todes – ist das die Zukunft. So kam es zu diesem Wechsel zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und irgendwie hilft es dabei, diese unheimliche Anwesenheit von Emilia und Orna im letzten Teil zu erzeugen.

    Das Gespräch für Deutschlandradio führte Martin Stengel.

    Das Kriminalhörspiel "Drei" in drei Teilen auf Grundlage des Romans:
    Krimi-Hörspiel aus Tel Aviv: Gefährliche Sehnsucht - Drei (1/3)
    (Deutschlandfunk Kultur, Kriminalhörspiel, 23.11.2020)
    Krimi-Hörspiel aus Tel Aviv: Gefährliche Sehnsucht - Drei (2/3)
    (Deutschlandfunk Kultur, Kriminalhörspiel, 23.11.2020)
    Krimi-Hörspiel aus Tel-Aviv: Gefährliche Sehnsucht - Drei (3/3)
    (Deutschlandfunk Kultur, Kriminalhörspiel, 30.11.2020)