Drogenparty mit Wildgetreide

16.09.2008
Warum die Menschen vor rund 10.000 Jahren sesshaft wurden, ist bis heute noch nicht geklärt. Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf widerspricht der gängigen These, dass Ackerbau aus der Not heraus betrieben wurde. Er glaubt, dass Zeiten des Überflusses für Sesshaftigkeit sorgten. Denn so hätten sich die Menschen ausgiebig der Drogenherstellung für kultische Feste widmen können. Wie daraus dann Brot wurde - diese Erklärung bleibt Reichholf schuldig.
An Erklärungsversuchen fehlt es nicht, warum vor gut 10.000 Jahren der Ackerbau im Vorderen Orient, in China und in Mittelamerika erfunden wurde. Immerhin hatte der Mensch bis dahin Hunderttausende von Jahren als Jäger und Sammler gelebt und war damit offenkundig auch gut gefahren.

Mit Aufkommen des Ackerbaus änderte sich alles. Mit ihm beginnt die Kulturgeschichte, die auf Sesshaftigkeit und Nahrungsmittelüberschüssen beruht, und damit Arbeitsteilung, Besitz und Herrschaftsverhältnisse hervorbrachte. Doch was die so genannte neolithische Revolution auslöste, das liegt immer noch im Dunkeln.

Auch Josef Reichholf vermag in seinem Buch keine Gewissheit schaffen. Aber seine Hypothesen sind gut begründet. Zuerst einmal widerlegt er die weit verbreitete Ansicht, Mangel an jagdbaren Tieren habe die Menschen damals in ihrer Not auf das Korn gebracht. Erst hätten sie wilde Getreidekörner gesammelt, dann selbst ausgesät und schließlich bewusst gezüchtet. Gleichzeitig habe man angefangen, sich Haustiere als jederzeit verfügbaren Fleischvorrat zu halten.

Das klingt plausibel, stimmt aber nicht mit den Befunden der Archäologen überein. In allen Gebieten, in denen Ackerbau bzw. Mais- oder Reisanbau betrieben wurde, gab es keinerlei erkennbaren Mangel an Wildtieren oder Früchten. Ganz im Gegenteil. Vieles spricht für großen Überfluss an Essbarem.

Reichholfs erste These lautet dann auch: Das Kornsammeln und bewusste Anpflanzen geschah nur dort, wo es diesen Überfluss gab, denn Ackerbau kostete anfangs sehr viel Zeit, war mühsam und brachte verhältnismäßig wenig Nährwert. Auch bei den Haustieren gab es seiner Ansicht nach wenig Grund, angesichts großer Wildtierherden Tiere zu halten und zu züchten. Seine Erklärung: Man brauchte die Haustiere anfangs für Feste, damit jederzeit Fleisch zur Verfügung stand. Schließlich wuchsen die Herden so an, dass man auf die Jagd nicht mehr angewiesen war. Ein Funktionswechsel fand statt.

Gemeinsames Feiern stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe, ging zudem oft einher mit Kulthandlungen, für die Schamanen, Medizinmänner, Priester zuständig waren und bei denen, folgt man Reichholf, seit Urzeiten Drogen verwendet wurden, um euphorische Stimmungen auszulösen und transzendentale Erfahrungen zu erlauben.

Mit dem Thema Drogen ist Reichholf bei seiner Hauptthese angekommen: Wildkörner eignen sich besonders gut zum Vergären. Wenn man sie zum Beispiel zerkaut und mit Wasser versetzt, entsteht ein schäumendes Getränk mit Alkohol, eine erste Form von Bier, durchaus nahrhaft, eben "flüssiges Brot". Das mühselige Körnersammeln diente folglich anfangs nicht der Ernährung, sondern dem Rausch. Den Aufwand für solche Genussmittel konnte sich aber nur eine Gesellschaft leisten, die im Überfluss lebte.

Diese gewagte These versucht Reichholf mit zahlreichen Hinweisen auf frühe Epen der Menschheit oder altägyptische Darstellungen von Bier trinkenden Menschen zu stützen.

Und genau das ist die Schwäche des Buches, denn obwohl seine Darstellungen sehr ausführlich und mit vielen Exkursionen in Randbereiche auf die Zeit vor dem Ackerbau einhergehen, tun sich dennoch große Erklärungslücken auf: Wann und warum zum Beispiel wurde das Getreide von der Droge zur Ernährungsgrundlage? Warum kam es in Asien zum Reisanbau? Fragen, die Reichholf nicht schlüssig beantwortet.

Beispiel Reisanbau. Als Droge, das heißt zur Alkoholherstellung, scheint der Reis wenig benutzt worden zu sein, denn in asiatischen Völkern gibt es auffallend häufig genetische Alkoholunverträglichkeit. Warum also in Asien die Menschen trotzdem mit Ackerbau begonnen haben, erklärt der Autor nicht.

Dennoch lohnt sich die Lektüre. Denn Josef Reichholf räumt in seiner Evolutionsgeschichte mit vielen Fehleinschätzungen auf. Zudem versteht er es glänzend, neue Erkenntnisse der Forschung in größere Zusammenhänge zu stellen. Das erlaubt plausible neue Sichtweisen, auch wenn Reichholf die definitiv gültige Antwort auf die Frage, "warum Menschen sesshaft wurden", schuldig bleibt.

Rezensiert von Johannes Kaiser

Josef Reichholf: Warum die Menschen sesshaft wurden - Das größte Rätsel unserer Geschichte
S. Fischer Verlag 2008
315 Seiten, 19.90 Euro