Drill und Musik
Das westliche Publikum suhlt sich angesichts harter Erziehungsmethoden in Selbstmitleid und schwelgt in Angstlust vor den Asiaten. Für die Brachialpädagogik herhalten muss einmal mehr der Musikunterricht.
Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit steckt im Wörtchen "wieder". Männer dürfen wieder, Frauen sollen wieder und Kinder müssen endlich wieder, nämlich gehorchen. Das westliche Publikum suhlt sich angesichts harter Erziehungsmethoden in Selbstmitleid – man war ja viel zu liberal und nachsichtig zum eigenen Nachwuchs! – und schwelgt in Angstlust vor den knallharten Asiaten.
Mich irritiert, dass einmal mehr der Musikunterricht für die Brachialpädagogik herhalten muss. Nehmen wir Sophias Klavierausbildung, die ihre Mutter, die Buchautorin Amy Chua, mit folgenden Worten beschreibt: "Als Sophia neun war, gewann sie ihren ersten lokalen Klavierwettbewerb mit einem Stück des Norwegers Edvard Grieg: ‚Schmetterling‘ ist eines von Griegs 66 ‚Lyrischen Stücken‘, Miniaturen, deren jede eine bestimmte Stimmung, ein bestimmtes Bild heraufbeschwören will. ‚Schmetterling‘ soll leicht und sorglos klingen – und bis es so klingt, braucht es Stunden um Stunden mörderischen, stumpfsinnigen Drills."
Was haben wir Musiklehrer falsch gemacht? Da haben wir nun die ganze Zeit gepredigt, dass Klavierspielen eine vielschichtige Angelegenheit sei, dass man beim Üben nie aufgeben dürfe, ohne sich jedoch zu verkrampfen, dass man ins kleinste Detail gehen solle, ohne den Sinn für die ganze Komposition zu verlieren, dass man mit Engagement spielen solle, doch ohne die Kontrolle durch das Gehör aufzugeben. All das kann und muss man einem neunjährigen Kind beibringen, und man darf annehmen, dass Sophias Klavierlehrer ihr so etwas ähnliches erzählt hat. Doch was ist davon bei Mutti hängen geblieben? Das Bekenntnis zum stumpfsinnigen, mörderischen Drill.
"So viele Vorzüge das Clavier besitzet, so vielen Schwürigkeiten ist dasselbe zu gleicher Zeit unterworffen." So beginnt der "Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen" von Carl Philipp Emanuel Bach aus dem Jahr 1753. Er erklärt auch gleich, warum. Von einem "Clavierspieler" erwarte man nicht nur "die Fertigkeit, ein für sein Instrument gesetztes Stück den Regeln des guten Vortrags gemäß auszuführen. Man verlanget noch überdies, dass ein Clavierspieler Fantasien von allerley Art machen soll" – heute würde man Improvisation dazu sagen –; "dass er einen aufgegebenen Satz nach den strengsten Regeln der Harmonie und Melodie aus dem Stegereif durcharbeiten", und "dass er die Wissenschafft des Generalbasses in seiner völligen Gewalt haben" müsse.
Das ist keine Kuschelpädagogik, doch fehlt hier der nassforsche Ton. Bach schreibt nirgends, wieviele Stunden am Tag der Schüler üben solle, und wie viele Male er eine Stelle repetieren müsse. Seine Empfehlungen sind ganz anderer Art: "Damit man die Tasten auswendig finden lerne und das nöthige Noten-Lesen nicht beschwerlich falle, wird man wohl thun, wenn man das Gelernte fleißig auswendig im Finstern spielet." Wie viele andere Komponisten auch, hält Bach Distanz zu den "blosen Treffern und Geschwindspielern" unter den Pianisten: "Sie überraschen das Ohr, ohne es zu vergnügen, und betäuben den Verstand, ohne ihm genug zu thun."
Erst das 19. Jahrhundert brachte die Trennung von Technik und Musikalität: auf der einen Seite das mechanische Fingerballett, auf der anderen Seite der leicht irrationale Kuss der Muse. So populär diese romantische Vorstellung ist, für das praktische Musizieren ist es wenig brauchbar. Jeder, der einmal eine Klavierstunde gegeben hat, begreift, dass Technik und Musikalität nicht wirklich zu trennen sind. Denn das Wichtigste im Musikunterricht liegt jenseits und zwischen diesen Polen: Wenn man weiß, wie man ein Stück spielen will, funktionieren auch die Finger, und die Schwierigkeiten beim Spielen wiederum können den Weg weisen, das Stück zu verstehen. Manchmal haben die banalsten Probleme des Treffens und Geschwindspielens und die erhabensten Fragen der musikalischen Gestaltung mehr miteinander zu tun, als man denkt.
Tomas Bächli wurde 1958 in Zürich geboren und studierte Musik am dortigen Konservatorium. Bis 1996 lebte er als Klavierlehrer und Konzertpianist in Zürich, anschließend in Brooklyn, 1999 zog er nach Berlin. Ohne sich vollständig darauf zu spezialisieren, führt Tomas Bächli in seinen Konzerten vorwiegend Werke der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte auf; er experimentiert oft mit neuen Konzertformen, unterrichtet und veranstaltet Workshops.
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Stofftiere ins Feuer und Pinkelverbot: Amy Chuas umstrittenes Buch "Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte"
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Was haben wir Musiklehrer falsch gemacht? Da haben wir nun die ganze Zeit gepredigt, dass Klavierspielen eine vielschichtige Angelegenheit sei, dass man beim Üben nie aufgeben dürfe, ohne sich jedoch zu verkrampfen, dass man ins kleinste Detail gehen solle, ohne den Sinn für die ganze Komposition zu verlieren, dass man mit Engagement spielen solle, doch ohne die Kontrolle durch das Gehör aufzugeben. All das kann und muss man einem neunjährigen Kind beibringen, und man darf annehmen, dass Sophias Klavierlehrer ihr so etwas ähnliches erzählt hat. Doch was ist davon bei Mutti hängen geblieben? Das Bekenntnis zum stumpfsinnigen, mörderischen Drill.
"So viele Vorzüge das Clavier besitzet, so vielen Schwürigkeiten ist dasselbe zu gleicher Zeit unterworffen." So beginnt der "Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen" von Carl Philipp Emanuel Bach aus dem Jahr 1753. Er erklärt auch gleich, warum. Von einem "Clavierspieler" erwarte man nicht nur "die Fertigkeit, ein für sein Instrument gesetztes Stück den Regeln des guten Vortrags gemäß auszuführen. Man verlanget noch überdies, dass ein Clavierspieler Fantasien von allerley Art machen soll" – heute würde man Improvisation dazu sagen –; "dass er einen aufgegebenen Satz nach den strengsten Regeln der Harmonie und Melodie aus dem Stegereif durcharbeiten", und "dass er die Wissenschafft des Generalbasses in seiner völligen Gewalt haben" müsse.
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Erst das 19. Jahrhundert brachte die Trennung von Technik und Musikalität: auf der einen Seite das mechanische Fingerballett, auf der anderen Seite der leicht irrationale Kuss der Muse. So populär diese romantische Vorstellung ist, für das praktische Musizieren ist es wenig brauchbar. Jeder, der einmal eine Klavierstunde gegeben hat, begreift, dass Technik und Musikalität nicht wirklich zu trennen sind. Denn das Wichtigste im Musikunterricht liegt jenseits und zwischen diesen Polen: Wenn man weiß, wie man ein Stück spielen will, funktionieren auch die Finger, und die Schwierigkeiten beim Spielen wiederum können den Weg weisen, das Stück zu verstehen. Manchmal haben die banalsten Probleme des Treffens und Geschwindspielens und die erhabensten Fragen der musikalischen Gestaltung mehr miteinander zu tun, als man denkt.
Tomas Bächli wurde 1958 in Zürich geboren und studierte Musik am dortigen Konservatorium. Bis 1996 lebte er als Klavierlehrer und Konzertpianist in Zürich, anschließend in Brooklyn, 1999 zog er nach Berlin. Ohne sich vollständig darauf zu spezialisieren, führt Tomas Bächli in seinen Konzerten vorwiegend Werke der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte auf; er experimentiert oft mit neuen Konzertformen, unterrichtet und veranstaltet Workshops.
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