Drill, Disziplin und Demütigung

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 26.02.2013
In seinem Regiedebüt "Drachenmädchen" porträtiert Inigo Westmeier drei Schülerinnen, die im chinesischen Kampfkloster "Shaolin Tagou" wohnen und ausgebildet werden. Es ist ein Leben, das zwischen blinder Disziplin und Pflichterfüllung sowie jugendlichen Träumen schwankt.
Drill, Disziplin und extreme Körperbeherrschung bestimmen das Leben in der chinesischen Kampfschule. Hier trainieren 26.000 Kinder, aber nur zehn Prozent sind Mädchen.

"Ich habe gedacht, an der Kung-Fu-Schule lernt man Fliegen und auch, dass es nicht so hart ist, wir nicht so früh aufstehen müssen, jeden Tag spielen und manchmal ein bisschen fliegen üben."

In seinem Regiedebüt "Drachenmädchen" porträtiert Inigo Westmeier drei Schülerinnen. Die Schule ist teuer. Die meisten Mädchen kämpfen hier auch gegen die Armut ihrer Familien und gegen ein traditionelles Frauenbild, in dem Mädchen in erster Linie ein ungünstiger Kostenfaktor sind:

"Und trotzdem ist es ja ganz rührend, dass zum Beispiel der Vater, der Melonenverkäufer, sein ganzes Geld gibt, damit es sein Mädchen einmal besser hat als er, also damit sie mal mehr verdient."

Aber auch wenn die Eltern einen großen Teil ihres Einkommens in die Schule stecken, sind die Möglichkeiten nach dem Abschluss begrenzt:

"Was ich werden möchte? Soldatin!"

In seinem Film fragt Inigo Westmeier nach den Träumen und Möglichkeiten der kleinen Kung-Fu-Kämpferinnen:

"Die meisten gehen, wie gesagt, zum Militär oder zur Polizei. Also das ist so die große Zahl, zur Polizei, zum Militär, manche werden Trainer. Der große Traum bei den meisten kleinen Mädchen ist, dass sie mal, so ähnlich wie hier, Schauspielerin werden im Kung-Fu-Film. Also da sind lauter Kung-Fu-Filme, immer wenn man das Fernsehen anmacht, ist immer irgendein Kung-Fu-Film zu sehen. Und ich hab gesucht, eine die da weg gegangen ist und tatsächlich Schauspielerin ist oder Kinostar oder so, aber keine gefunden, was ja auch ein bisschen traurig ist ..."

Er befragt die Kinder aber auch nach dem harten Alltag der Schule, nach der Einsamkeit und den körperlichen Strafen:

"Wurdest du auch schon geschlagen? Tut es weh?"
"Natürlich tun Stockschläge weh."
"Dürft ihr einen Freund haben?"
"Auf keinen Fall!"
"Was passiert, wenn sie es rausfinden?"
"Dann werden wir geschlagen."

Kosmetikerin statt Kämpferin
Der Film zeigt die Schülerinnen, zeigt aber auch eine Aussteigerin, ein kleines Mädchen, das Inigo Westmeier bereits bei seinem ersten Besuch aufgefallen war:

"Und zwar ist da aufgefallen, dass, also alle werden in den Bauch getreten, aber ihr tat es eben weh. Also da ist ein Mädchen, wo man auch wirklich mal sieht, hey, es tut weh, den ganzen Tag in den Bauch getreten zu werden, und sie hatte keine Lust drauf, und man sieht, dass sie eigentlich gar keinen Bock hat und sich gedacht hat: Was mache ich hier eigentlich so? Also, was soll das Ganze?"

Sie flüchtete aus der Schule und machte in Shanghai eine Ausbildung als Kosmetikerin. Andere Mädchen haben dagegen die Werte der Schule bereits völlig verinnerlicht:

"Tränen sind ein Ausdruck von Unfähigkeit. Weinen bringt dir doch nichts."

Neun Jahre lang arbeitete Inigo Westmeier an seinem Filmprojekt, dabei kämpfte er sich nicht nur durch den Dschungel der deutschen und europäischen Filmförderung, sondern natürlich auch durch das Dickicht der chinesischen Bürokratie:

"Und immer wieder hieß es dann: Unmöglich, geht nicht! Und an der Schule eben auch, immer: ich will was drehen und dann hieß es erstmal von der Schule aus, von China aus, jeden Morgen und nach jeder Stunde: Das geht auf keinen Fall! Unmöglich, unmöglich und ich habe es dann doch gemacht. Aber egal wohin, also auch so kleine Sachen irgendwie, also wir würden jetzt gerne den Essenssaal drehen. Das geht nicht, also da wollten sie da eben noch einmal aufräumen oder was immer. Aber das Schwierige war eben, dass es bei allen Sachen immer hieß, das ist schwierig, unmöglich."

Spiegelbild des modernen China
Am Ende ist eine beeindruckende Dokumentation über den Alltag einer Kampfschule entstanden, ein Alltag voll blinder Disziplin und Pflichterfüllung. Dabei ist die Schule in der Mischung aus kollektivem Gehorsam und elitärem Leistungsdenken auch ein Mikrokosmos, in dem sich die Widersprüche und Zwänge des modernen China widerspiegeln.

"Ja, das hat schon etwas sehr Beklemmendes, finde ich. Was da natürlich völlig verloren geht, ist Kreativität, Gefühle und dieses Kindliche auch. Wobei es ja dann doch, das ist ja auch etwas schönes, was ich immer versucht habe herauszufinden, wann scheint diese Kindheit bei den Menschen dann doch durch. Da ist ja jede Bewegung fast wie eine Tanzchoreografie, und auch fast den ganzen Tag geplant und durchstudiert, und trotzdem scheint manchmal die Kindheit durch. Da gibt es diese Szene, wo sie sich mit Wasser bespritzen und dann doch eben noch Kinder sind. Eben auch wenn sie erzählen, merkt man eben doch, obwohl vordiktiert wird, sind sie genauso kleine Mädchen, die Träume haben und das Menschliche dann doch durchscheint."

Es geht dem Film allerdings nicht um eine pointierte politische Stellungnahme. Vielmehr ist "Drachenmädchen" eine nachdenkliche Reflexion über das Verschwinden der Kindheit im Kanon eines elitären Leistungsdenkens. Ein universelles Problem, das weit über die chinesischen Verhältnisse hinausreicht.

Filmhomepage "Drachenmädchen"