Dreimal „Blaubart“ in Bremen

Von Frieder Reininghaus |
Zwei „Blaubart“-Opern in Bremen, unterstützt von einer „Blaubart“-Tagung an der Universität – viel Aufmerksamkeit für die Geschichte um den alten König, der erfolglos versucht, mit einer jungen Frau zurechtzukommen.
Blaubart – das ist ein zumindest mittelaltes Märchen, das 1697 durch Charles Perraults Contes de ma mère l'Oye in die Welt gesetzt wurde und von da aus in die verschiedensten Länder und kulturellen Kontexte aus- und einwanderte. Es handelt vom reichen, ansehnlichen, doch schon etwas gealterten König Barbe-Bleue, der sich noch einmal eine junge Frau nimmt, mit der aber ebenso wenig zurechtkommt wie mit deren Vorgängerinnen. Die Fabel zielt, was jedes Kind begreift, auf einen möglichen und wahrscheinlichen Grundkonflikt zwischen dem gewaltbereiten verschlossenen Mann und der weiblichen Neugierde.

Unter den verschiedenen künstlerischen Veredelungen des Blaubart-Stoffs gehört die 1910/11 entstandene von Béla Balázs und Béla Bartók inzwischen zu den bekanntesten. Zwar fand sich nach der verspäteten Uraufführung (Budapest 1918) ein halbes Jahrhundert lang nur wenig Interesse an diesem Werk des „Durchbruchs“. Doch, und das dürfte kein Zufall gewesen sein, änderte sich dies mit der flächendeckenden Ausbreitung der Psychoanalyse in den Jahren nach 1968. Und seit den 70-er Jahren entwickelte auch die abstrahierende Kunst der Blaubart-Inszenierungen ihr bemerkenswertes Eigenleben.

Die Thematik erhielt mit Franz Hummels 1984 am TAT in Frankfurt als Tanzstück uraufgeführtem (und damals von Rosamund Gilmore choreographierten) Blaubart, der sich unmittelbar auf Sigmund Freud bezog, einen weiteren in Richtung Seelenerkundung sich vortastenden Kommentar. Der inzwischen orchestral nachgerüstete Hummel-Blaubart wurde nun zusammen mit dem Bartókschen im Bremer Theater am Goetheplatz von Gilmore neu inszeniert.

Die Bremer Doppelpremiere wurde sekundiert von einer wissenschaftlichen Tagung der Universität. Das Symposium kümmerte sich um die Stoffgeschichte bis hin zur neueren deutschen Blaubart-Literatur seit 1980 ebenso wie um den Niederschlag des bösen alten Knaben in der Bildenden Kunst (vor allem des 19. Jahrhunderts) sowie um verschiedene um seinetwillen ins Leben gerufenen Opern und deren Aufführungsgeschichte – um André-Erneste-Modest Gretrys Schreckens- und Rettungsoper von 1789, um Offenbachs überdrehte gesellschaftskritische Sexkomödie von 1866 und die licht-symbolistische Ariane et Barbe-Bleue von Paul Dukas (1907). Die Tagungsleiterin Panja Mücke sorgte mit ihrer Exegese der psychoanalyse- und freudkritischen Komponenten von Franz Hummels Musiktheater für einen Brückenschlag zur Praxis.

Tatsächlich stützt sich die jüngste der Blaubart-Opern auf eine von Sigmund Freud veröffentlichte Studie über Hysterie. Das Libretto von Susan Oswell reduzierte den Arztbericht zum Fall einer Zwanzigjährigen, reicherte ihn um Lyrik von Georg Trakl an sowie einige Segmente aus dessen Blaubart-Fragment – und pointierte die Gemengelage zu einer dreifachen Missbrauchsgeschichte, die der Dora widerfahren sei. Rosamund Gilmores Inszenierung hinter einem auf die Zeit des ersten Weltkriegs verweisenden Stacheldrahtverhau gruppiert um eine in einer Wasserlache stehende riesenbreite Couch den offensichtlich zur Verwandtschaft gehörenden Vergewaltiger K., Doras gleichfalls schwarzen Vater und Erstnutzer sowie den grauen Sigmund. Der missbraucht als Dritter die junge Frau – auf seine Weise.

Den Nötigern und Beobachtern stellte der Ausstatter Carl Friedrich Oberle Tennisschiedsrichtersitze zu Verfügung. Dora, so ist dann zu sehen, lässt sich von den Männern nicht unterkriegen. Sehr deutlich wird ihr gesundes Emanzipationsstreben in Gilmores Inszenierung: Sie beendet die Therapie bei Sigmund durch eine körperliche Auseinandersetzung, nimmt sich die von Judit zurückgelassenen weißen Lilien zur Brust und schreitet hinaus – vermutlich ins Freie.

Überhaupt wurden die beiden Teile des Abends mannigfaltig durch Symbole und Gesten verknüpft beziehungsweise konterkariert. Die über der Versuchsanordnung schwebenden sieben Türen und die hochsymbolische Röhre gestalteten den leeren Raum der ersten Halbzeit, in der Bartóks Blaubart all seiner Anbindung an die mittelalterliche Feudalgesellschaft in Osteuropa entkleidet und als säuberlich und von präzisen Gesten unterstrichener Beziehungs-Dialog gezeigt wurde – ganz in der abstrahierenden Tradition, die seit Klaus Michael Grübers Frankfurter Inszenierung von 1974 modellhaft zum Vorbild und von Herbert Wernicke seit 1988 mehrfach auf noch radikalere Weise kontrapunktiert wurde. Gilmare pflegt in der ungebrochenen Anknüpfung an diese Inszenierung eines vergangenen Jahrhunderts so etwas wie Historismus der Moderne.

Der aus Südafrika stammende Bassist George Stevens und Nadja Stefanoff aus Chemnitz gaben das Paar, das es miteinander probieren will und doch nicht zusammenkommt, weil der Mann die letzten dunklen Kammern seines Herzens der weiblichen Neugierde nicht öffnen möchte: er, der Machtmensch im weißen Hochzeitsfrack, mit einer durchaus geschmeidig-gewinnenden und nie polternden, durchweg sonoren Stimme – sie im Brautkleid mit einem ebenso blitzsauberen Sopran, der einerseits die Liebesbekundungen warm erstrahlen lässt, in den Momenten der Befragung aber durchaus Strenge, ja Impertinenz annimmt.

Nicht minder glücklich erweis sich die Besetzung der Partie Doras mit der eigentlich gar nicht behandlungsbedürftig, eher nassforsch görenhaft wirken Steffi Lehmann aus Räckelwitz bei Kamenz. Ihr ist auch in Zukunft noch so einiges zuzutrauen – beim Vorzeigen des Missbehagens in der Kultur und der Darstellung entschlossener Selbstverwirklichung. Beachtlich ist, wie sie mit den Höhen der auf Marienchoralzitate gestützten Melodien Trakl-Zitate agiert und deren Untiefen durch schlichten Schöngesang auffängt ("ein Herz so rot“ oder „in süßen Qualen brennt der Schoß").

Die Bremer Philharmoniker trafen, höchst konzentriert angeleitet von Markus Poschner, den streichergestützten Legendenton Bartóks ebenso gut wie sie die Härten der Enthüllungsmusik und des persönlichen Desasters von Blaubart und Judit herausprozessierten. Gerade aber auch die filigranen, von vierteltönigen Passagen durchsetzten Streicherpartie der Hummelschen Partitur wurden mit hoher Präzision ausgeführt und so insgesamt überzeugende, ja: berückende Klangereignisse geboten.