Drei Milliarden Namen für die Ahnenforschung

Von Michael Marek · 23.08.2008
1894 gründete die Kirche der Mormonen ein Genealogie-Archiv. Heute ist diese Datensammlung der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage", wie die Mormonen-Kirche offiziell heißt, die größte ihrer Art - weltweit. Das Archiv steht jedem offen - unabhängig von der Religionszugehörigkeit, Nationalität oder Geschlecht.
Little Cottonwood Canyon, 40 Kilometer südöstlich von Salt Lake City: Die Berge um das Zentrum der Mormonen sind ein beliebtes Ausflugsziel bei Skifahrern und Wanderern. Doch kaum jemand weiß, dass sich hier eine weltweit einzigartige Lagerungsstätte zur Ahnenforschung befindet.

Verschlossen durch eine 14 Tonnen schwere Stahltür lagern hier in einem Bergstollen die Namen von über drei Milliarden Menschen. Gesichert auf Mikrofilm, geschützt vor saurem Regen und radioaktiver Strahlung hilft diese weltweit größte Namensammlung Wissenschaftlern und Hobbygenealogen aus aller Welt bei ihren familienkundlichen Forschungen:

Thompson: "Wenn Sie eine starke Familie haben, dann haben Sie auch eine starke Gemeinschaft."

Tab Thompson, Mitarbeiter am Familiensuch-Zentrum in Salt Lake City:

"Wenn man eine starke Gemeinschaft hat, dann hat man eine starke Nation. Und wenn wir eine starke Nation haben, dann haben wir eine starke Welt mit mehr Frieden, weil jedem klar wird, dass wir uns alle doch ähnlich sind. Wenn man nach seinen Vorfahren forscht, dann findet man einen Halt und man weiß, dass man ein Teil dieser Welt ist."

Ein gelblich gestrichener, über 200 Meter langer, erdbebensicherer Tunnel führt in den Granitberg. Tausende von Archivkästen stehen hier, in denen das Filmmaterial aufbewahrt wird. Bei 16 Grad Celsius und 30 Prozent Luftfeuchtigkeit. Sommer wie Winter. Geschützt in sechs unterirdischen Gewölberäumen.

"1894 wurde mit dem Projekt begonnen. Heute gibt es verschiedene Bereiche: Da sind die Datensammlungen und die Bibliothek. Und es gibt den Lagerbereich im Granite Mountain-Stollen, wo die Mikrofilme lagern."

Die Mikrofilme enthalten die Daten von Verstorbenen, die vor 1930 gelebt haben. Drei Milliarden Namen aller Nationalitäten hat man zusammengetragen – von Kindern, Frauen und Männern jeden Alters und jeder Religionszugehörigkeit. Seit 1938 sammeln die Mormonen in mehr als 110 Ländern genealogische Quellen, kopieren, werten aus und mikroverfilmen die Daten: darunter Geburts-, Heirats- und Todesurkunden, Volkszählungsergebnisse, Gerichtsprotokolle, Eigentümerverzeichnisse, Erbbestätigungen, Ein- und Auswandererlisten sowie Familien- und Stadtchroniken. Auch in Deutschland sei das mit großem Erfolg gelungen, so Thompson:

"Wir verhandeln mit den zuständigen Behörden - seien es Archivare oder Regierungsstellen. Wir gehen los, prüfen das vorhandene Material und entscheiden, was von genealogischem Wert ist. Dann unterbreiten wir Vorschläge für einen Vertrag, damit wir diese Daten übernehmen können. Wenn das akzeptiert wird, schicken wir unsere Leute mit Mikrofilmkameras und fotografieren die Informationen."

Das genealogische Archiv der Mormonen enthält zig Milliarden gespeicherter Daten. Ihre Vernichtung - sei es durch Erdbeben, Tintenfraß, Papierzerfall oder bewaffnete Konflikte - würde einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten. Damit diese Informationen im Falle einer Katastrophe erhalten bleiben, wurde der unterirdische Stollen Anfang der sechziger Jahre in den Berg getrieben – zur Einlagerung der Sicherungsfilme. Sechs Jahre dauerten die aufwendigen Bauarbeiten. Finanziert von den Mitgliedern der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage", deren Anhänger zehn Prozent ihres Gehalts an die Kirche abgeben:

"Unsere Aufgabe ist es, Menschen den Zugang zu genealogischen Informationen zu ermöglichen. Das heißt nicht, dass man die Mikrofilme oder digitalen Bilder ansehen kann. Aber mit unserer Hilfe können Sie den Inhalt verstehen, und wir können ihnen auch erklären, was es heißt, wenn ihr Ur-, Ur-, Urgroßvater ein Schornsteinfeger war oder etwas Ähnliches. Mit unserer Hilfe werden die Vorfahren lebendig, auch wenn sie schon seit Generationen oder Jahrhunderten tot sind."

Erklärt Tab Thompson voller Überzeugung. Der Genealoge und Vollwaise glaubt wie alle anderen Mormonen, dass er seine Vorfahren nach dem Tod wiedertreffen wird:

Den Mormonen gelten die Familienbeziehungen als heilig. Ihrer Lehre nach kann eine Familie, können Frauen und Männer, Eltern und Kinder vereint sein, ohne dass der Tod sie scheidet. Um diese "Segnungen" auch ihren verstorbenen Vorfahren zu ermöglichen, tragen die Mitglieder der Kirche Angaben über sie zusammen, damit sie stellvertretend für sie zum Beispiel Eheschließungen vollziehen können. Die Vorfahren können dann entscheiden, ob sie diese heiligen Handlungen annehmen. Doch dies allein ist nicht der Hauptgrund, warum die Mormonen so ein umfangreiches Namenregister eingerichtet haben: mit Geburts- und Sterbedaten sowie oft einem kompletten Stammbaum, über viele Generationen hinweg. Nach ihrem Glauben ist es auch möglich, längst gestorbene Vorfahren durch einen Stellvertreter taufen und in die Mormonengemeinde aufnehmen zu lassen, damit sie wenigstens im Jenseits – nachträglich - auf den richtigen Weg des Glaubens kommen können.

"Die meisten Besucher kommen aus Deutschland und aus den Niederlanden und aus Frankreich und dann den skandinavischen Ländern."

Bärbel Bell wurde in Kiel geboren und arbeitet heute im Familiensuchzentrum von Salt Lake City. Was bis vor 20 Jahren nur professionellen Familienforschern bekannt war, ist heute auch für Laien zugänglich. Die Archive und Dokumente der Mormonen stehen jedem offen, der nach den genealogischen Wurzeln seiner Familie sucht unabhängig davon, ob es sich um Mormonen handelt, Christen, Moslems oder Hindi:

"Wir als Genealogen sind natürlich daran interessiert, dass nicht nur ein kleiner Haufen von Leute unser Wissen erhalten, sondern so viel wie möglich. Es wird darüber nachgedacht, ob wir nicht so etwas Ähnliches erstellen sollen wie Wikipedia, ja."

Heute weckt die vermeintlich geheimbündlerische Organisation der Mormonen bei vielen Menschen noch immer Misstrauen. Die geweihten Mormonentempel bleiben Nicht-Mormonen verschlossen. Kritikern gilt ihre Ahnenforschung als suspekt, weil schon verstorbene Familienmitglieder rückwirkend getauft werden können, sofern ihre Daten bekannt sind. Konservativ und leistungsorientiert ist die Religionsgemeinschaft. Die Vielweiberei hat die Kirche zwar seit 1890 unter Strafe gestellt, aber inoffiziell wird sie von manchen Mormonen weiterhin betrieben. Homosexuelle Partnerschaften, Abreibungen, vor- und außereheliche Sexualität lehnt die "Church of the Latter-Day Saints" ab. Heute wird den Mormonen weniger Polygamie, Rassismus und Sexismus vorgehalten, sondern ihr hartnäckiges Werben um neue Mitglieder und der Einfluss der Kirche auf das Leben der Gläubigen. Viele US-Amerikaner haben Angst, dass die Mormonen – unabhängig von der Parteienzugehörigkeit - Einfluss auf die Politik nehmen. So ist die Zahl der Mormonen beim US-Geheimdienst CIA laut der unabhängigen Salt Lake Tribune unverhältnismäßig hoch – nicht zuletzt weil die Mormonen ihrer obligatorischen Missionartätigkeit im Ausland wegen besonders viele Fremdsprachen beherrschen. Wichtige Posten im Außen- und im Finanzministerium sind von Mormonen besetzt; sie führen die Rechtsabteilung im Weißen Haus und sie beraten den Kongress in internationalen Angelegenheiten, in der Frage der freien Religionsausübung sowie bei der Bildungsreform.

Das Namenarchiv der Mormonen gilt weltweit als einzigartig und gleichzeitig ist es ein Prestigeobjekt der Religionsgemeinschaft. Die Datenrecherche im Namenarchiv der Mormonen ist kostenlos. Es ginge nicht um materiellen Gewinn, hatte der kürzlich verstorbene 97-jährige Kirchenpräsident Gordon Hinckley erklärt, sondern Mormonen und anderen Menschen zu helfen, ihre familiären Wurzeln zu finden.