Drei Jahrzehnte irakischer Geschichte

Mossul, Basra, Bagdad – Ortsnamen, deren Klang sofort Assoziationen an jenen Krieg hervorrufen, der, 2003 von der "Koalition der Willigen" begonnen, bis heute nicht beendet ist. Doch Nachrichten und Fernsehbilder aus dem arabischen Land sind inzwischen rar geworden, es scheint als sei dieser Krieg selbst ausgeblutet.
Leere macht sich breit, will man etwas über Land und Leute sagen. Plötzlich wird offenbar, dass das Gesicht der irakischen Zivilgesellschaft, die Kultur und Lebensart im Irak noch weniger bekannt ist als die politische Entwicklung des Landes.

Umso aufmerksamer muss das Buch des in Barcelona lebenden Irakers Pius Alibek betrachtet werden. "Als ich unter Sternen schlief" ist die erste Publikation des studierten Anglisten, der in Kataloniens Hauptstadt ein Restaurant betreibt. Er beschreibt für seine in Spanien geborenen Töchter "wer ihr Vater war und woher er kam", Leben und Alltag im Dreistromland.

Alibek, 1955 im kurdischen Teil des Irak geboren, gehört zur assyrochaldäischen Minderheit. Seine Muttersprache ist Aramäisch, seine Vorfahren, die ersten Bewohner Mesopotamiens, wurden Christen – und jahrhundertelang verfolgt von jeweiligen Eroberern: Persern, muslimischen Arabern, Mongolen, Osmanen.

Im Jahrzehnt seiner Geburt jedoch, so Alibek, hätten die verschiedenen Völker in der Region zu einem friedlichen Zusammenleben gefunden – das angehalten habe bis zur Machtübernahme Saddam Husseins.

Alibek erinnert sich in loser Folge an Kindheit, Jugend, Schul-Studien- und Militärzeit. An Familienfeste und -fehden, seine elf Geschwister und eine große Zahl von Verwandten. Über die genaue Beschreibung der Menschen, ihres Aussehens und Verhaltens, immer verbunden mit einem beispielhaften Vorfall, erzählt er Geschichten sozialer Beziehungen im Irak: die zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, zwischen Männern und Frauen, Potentaten und Untergebenen. Das flirrende Bild einer vielschichtigen Gesellschaft entsteht. Und das des Erzählers als lesehungriger junger Mann, der sich nicht unterordnen will: weder in der Familie, noch im jesuitischen Priesterseminar.

Alibek studiert Englisch in Bagdad, lebt in einer Wohngemeinschaft, macht erste Erfahrungen mit Mädchen. Nach seinem Militärdienst, den er unter Umständen zubringt, die Kafka nicht bedrückender hätte erfinden können, gelingt es ihm, das Land zu verlassen – mit List, Verstand und Mannhaftigkeit – persönlichen Eigenschaften, auf die hinzuweisen er im gesamten Buch nicht müde wird. Die fortlaufende Selbststilisierung des Autors, selbst wenn er über eigene Ängste und Tränen spricht, ist durchaus eitel.

Angesichts des Verdiensts jedoch, drei Jahrzehnte irakischer Geschichte anschaulich und differenziert auszumalen, kann man getrost darüber hinweg schauen. Auch über manch anti-westliche Plattitüde.

Alibek schildert Korruption, sexuellen Missbrauch und politischen Druck, aber auch menschliche Größe und Integrität. Er beschreibt Sandstürme und Sonnenuntergänge genauso sinnlich wie zarte Verführungsversuche auf dem Rücksitz eines Autos oder das Zubereiten einer Mahlzeit. Es gelingt ihm mit seinem Buch, die irakische Wüste in unserem Kopf zum Blühen zu bringen.

Besprochen von Carsten Hueck

Pius Alibek: Als ich unter Sternen schlief
Aus dem Katalanischen von Cecilia Dreymüller
Insel Verlag, Berlin 2011
397 Seiten, 22,90 Euro