Drehbuchautor: "Es gab eine Identifikation" mit der DDR

Wolfgang Kohlhaase im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.08.2011
Der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase blickt auf die Zeit der deutschen Teilung als auf die Zeit eines gescheiterten Denkversuchs. Der 1931 geborene Filmemacher sagte, er habe etwa bis 1965 die DDR auch als ein großes Abenteuer betrachtet.
Joachim Scholl: Der Drehbuchautor und Schriftsteller Wolfgang Kohlhaase zählt zu den meist- und gern geehrten Filmschaffenden, weil seine Bücher über die Jahrzehnte so klug, elegant, witzig und realistisch waren und sind. Große Filme sind entstanden wie "Solo Sunny", "Die Stille nach dem Schuss" oder "Sommer vorm Balkon", um nur ganz berühmte zu nennen.

Wolfgang Kohlhaase ist inzwischen 80 Jahre alt, ein gebürtiger Berliner, aufgewachsen noch in Ost und West gleichermaßen vor der Teilung. In dieser Woche haben wir täglich Zeugen jener Zeit eingeladen hier im "Radiofeuilleton", und heute ehrt uns Wolfgang Kohlhaase durch seinen Besuch. Willkommen, Herr Kohlhaase!

Wolfgang Kohlhaase: Guten Tag, dankeschön für die schöne Ansage!

Scholl: Als am 13. August 1961 die Bagger und Presslufthämmer in Berlin dröhnten, waren Sie gerade in Prag. Herr Kohlhaase, wie haben Sie diese Nachricht aufgenommen, dass jetzt eine Mauer gebaut wird, die Ihre Stadt teilt?

Kohlhaase: Also ich bin an eben diesem Tag morgens gegen acht aus Adlershof, also am Stadtrand liegend, rausgefahren und habe buchstäblich nichts gehört und gesehen davon. Und dann kam ich nachmittags in Prag an, und da hatten es die Freunde, zu denen ich da gefahren bin, auch auf die denkbar ungenaueste Weise im Radio gehört, und wir haben jetzt sicherlich darüber geredet: Was kann das bedeuten, oder was ist die Geschichte daran, was ist die Vorgeschichte daran?

Scholl: Gab es denn für Sie Indizien – also wie haben Sie die Stimmung davor empfunden –, also dass solch ein Schritt erfolgen würde, dass die DDR-Oberen etwas tun würden, weil ja immer mehr Menschen aus dem Osten geflohen sind? Haben Sie da mit Ihren Bekannten, Freunden drüber diskutiert?

Kohlhaase: Das hat einen in jedem Fall beschäftigt, also hat man auch darüber gesprochen. Ich habe nicht gedacht, jetzt machen die das zu oder was würde passieren, aber ich weiß, es war ein Sommer großer politischer Nervosität.

Scholl: Sie sind 1931 geboren, im Osten aufgewachsen, haben gesehen, wie das zerstörte Berlin langsam wiederaufgebaut wurde. Und Sie hatten ja durchaus Hoffnung auch für die sozialistische Idee, Utopie vom Arbeiter- und Bauernstaat, von Gleichheit und Brüderlichkeit, Sie fühlten sich ja wohl. Was hat dann diese Teilung für Sie konkret bedeutet?

Kohlhaase: Ich will mal sagen, es kam ja nach 1945 ein radikal neues Denken. Wir hatten, wenn man so will, im Osten die ärmeren Sieger, und das hat sich auf lange Zeit bemerkbar gemacht, bis zu dem Punkt, dass es ... die DDR glaube ich einen großen Teil der Reparationen bezahlt hat, die eigentlich auf der gesamtdeutschen Rechnung standen. Es ging alles sehr viel langsamer, es war auch ungeübt, es hat ja nicht die Elite der deutschen Verwaltung weitergemacht wie in der Bundesrepublik, sondern die Leute waren weg, man brauchte auch andere Leute. Das ging alles langsamer. Aber diese Utopie war nicht verbraucht, auch nicht vor dem mehr moralischen Hintergrund: Wie soll denn das weitergehen nach diesem Krieg und nach den Dingen, die im deutschen Namen passiert sind? Also dass es vielleicht eine Alternative in der deutschen Geschichte geben konnte, war eine Sache, die den Leuten, die so alt waren wie ich oder so jung waren wie ich, durchaus anhing, und das hat man nicht jetzt einfach an jedem Tag neu infrage gestellt. Also es gab eine Identifikation mit diesem Versuch, und gleichzeitig sah man, dass das klemmte hier oder dort. Gleichzeitig war man in Berlin ja auch immer in der schönen Lage, hin- und herzugehen, also ...

Scholl: Sie haben Berlin noch so richtig in der Gesamtheit genossen, also am Alex mittags Kaffee getrunken und abends am Kudamm ins Kino gegangen.

Kohlhaase: Und während man vielleicht im Osten dachte, man entdeckt die Zukunft der Welt, so entdeckte man in Neukölln die Kreppsohle – hat mich wahnsinnig beschäftigt, warum es bisher keine Schuhe gab mit Kreppsohlen.

Scholl: Die haben Sie in Neukölln aufgetrieben, ja?

Kohlhaase: Natürlich, bestimmte Sachen musste man im Westen kaufen, und das waren zum Beispiel Schuhe mit Kreppsohlen.

Scholl: Wie war das für Sie auch als Künstler, Herr Kohlhaase? Ich meine, Kritiker loben immer Ihr besonderes Sensorium für die Sprache, und die Sprache hat sich da im Kalten Krieg, auch in dieser Phase, auch im Osten ja auch geändert – die Mauer hieß später der "antifaschistische Schutzwall".

Kohlhaase: Ja, aber nur in der Zeitung.

Scholl: Das muss Ihnen aufgestoßen sein, oder?

Kohlhaase: Das hat ja kein Mensch gesagt. Es gab ja immer eine Politik, speziell auch in der Politik in der DDR, ein unglückliches Verhältnis von Sprache und Phrase. Und natürlich hat so was im Alltag niemand gesagt. Es war klar, das war die Mauer.

Scholl: Der Mauerbau vor 50 Jahren, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Drehbuchautor und Schriftsteller Wolfgang Kohlhaase. Sie haben einmal geschrieben, jetzt im Hinblick auf Ihre Arbeit: "Wo Menschen in Situationen geraten, die sie so nicht vorhatten, aber in denen sie leben müssen, steckt etwas von dem, was mich immer interessiert hat: die tägliche Tapferkeit, die man zum Leben braucht." Wie war es denn um Ihre tägliche Tapferkeit bestellt, Herr Kohlhaase, nach dem 13. August, jetzt also im abgetrennten Ostberlin? Keine Kinobesuche mehr am Kudamm.

Kohlhaase: Ach, ich werde Ihnen was sagen: Die Kinobesuche waren, so gerne ich da oder dort hingegangen bin, waren nicht so wichtig. Wie es ja überhaupt in der Situation vom 13. August angefangen, gab es naive Lagen und weniger naive. Wer zum Beispiel im Grenzbereich wohnte, wer sein Leben auf beiden Seiten der Grenzen von Kindheit an gelebt hatte trotz aller politischen Trennung, wer Familien hatte, wo die Grenze dann hindurchging, reagierte (…) einer anderen Lage. Ich hatte das aus irgendeinem Grund nicht.

Also mein tägliches Leben hat sich zunächst nicht geändert. Ich bin da ohnehin nicht dauernd rübergegangen, ich wohnte in meinem Vorort und jetzt ging ich da erst mal nicht hin. Ich meine, was die Arbeit betraf: Mir gingen, wenn man so sagen will, zwei Geschichten verloren, die hatten sich natürlich von einem Tag auf den anderen erledigt, weil die Lage war nicht mehr so, aber das habe ich niemandem zum Vorwurf machen können.

Scholl: Sie waren in der DDR trotz Ihrer jungen Jahre rasch ein arrivierter und gefragter Filmschaffender, wurden auch preisgekrönt. Wie hat sich die Arbeit dann nach dem 13. August verändert? Später hat die Zensur bei Ihnen ja auch gewirkt, also Stoffe wurden verboten, je nachdem.

Kohlhaase: Ja, das ist ein interessanter Gesichtspunkt. Nachdem die Grenze zu war – das war schwer vorhersehbar, schon gar nicht war vorhersehbar, dass sich das strecken würde über eine Lebenszeit, sondern man dachte, das löst akute Probleme, man wusste und ahnte, das schafft Probleme –, ... Und so war mit dem Schließen der Grenze auch eine Hoffnung verbunden, kann man sagen, oder von heute her könnte man sagen, es war eine Illusion vielleicht, aber das Land könnte, wenn es sicherer ist, wenn es sich nicht so gefährdet sieht, wenn es nicht den täglichen Substanzverlust mit allen Aspekten erleiden muss, dieses Land könnte sich mehr Offenheit zutrauen.

Es könnte weniger bedenklich mit den ungelösten Fragen seiner Entwicklung umgehen, das heißt, wir könnten miteinander ehrlicher sein, denn man war nicht von vornherein einer völlig anderen Meinung, als es die Politik war. Aber wenn es dann um die nicht erledigten Dinge ging, dann stellte sich heraus, dass die Wunschbilder der Politik und die Filmbilder nicht so recht zusammenpassen wollten. Und die Zensur, auf die Sie eben angespielt haben, war ja kein Büro oder keine feste Einrichtung, das war eher eine permanente Bedenklichkeit. Und das führte dann im Jahre 65, vier Jahre später führte es zu dieser unglücklichen Veranstaltung, diesem 11. Plenum, wo mehr als die halbe Jahresproduktion von Filmen verboten wurde, aber das betraf auch Theater, betraf Romane und so weiter. Und diese Zeit von 61 bis 65, das ist nicht ganz zufällig, denn das ist genau die Zeit, in der Filme konzipiert werden, und damit die Filme wiederum verboten werden konnten, mussten sie ja erst mal gedreht werden.

Und dann kam dieses Plenum, und wenn man es sehr verkürzt sagen will, hat sich die Politik in einer törichten Vorstellung von ihrer eigenen Omnipotenz hat sie sich eigentlich die Realität abbestellt. Das war dann das Ende der Annahme, wenn der Zaun zu ist, wird das alles leichter gehen.

Scholl: Wenn Sie jetzt, Herr Kohlhaase, mit der Weisheit Ihrer Jahre auf diese Zeit, diese ersten Jahre auch der Teilung zurückblicken, was ist Ihnen durch die Mauer definitiv genommen worden, das Sie sonst unbedingt hätten erleben können oder auch wollen? Gibt es da was?

Kohlhaase: Die DDR, um mal so anzufangen, war schon ein großes Abenteuer, und dass ich da aus meinem Berliner Vorort kam, wo alle Leute, die ich kannte, von ihrer Hände Arbeit lebten und auf seltsame und auch mehr oder weniger zufällige Weise erst ein Journalist wurde und dann anfing, Filme zu machen, das war auch ein großes Abenteuer.

Also ich hatte nicht das Gefühl, ich habe innerlich nichts zu tun, ich lebe hungrig und mit unerfüllten Sehnsüchten. Was mir sicher verloren gegangen ist in diesem Alter ist die sinnliche Beziehung zu dem größeren Deutschland, das ja letzten Endes das Geschichtsfeld war, in das ich gehörte, auch die Kultur, zu der ich mich zählen konnte, die Sprache, in der ich versuchte, etwas zu erzählen. Ich kann aber nicht sagen, dass ich das schmerzlich vermisst hätte und schon gar nicht schlagartig 61.

Aber weil Sie mich gefragt haben, wie ich es von heute her sehe, dann sage ich: Ich weiß es jetzt, dass mich das alles etwas angeht, das alles will ich sehen. Vielleicht war es das, denn die Kollegen und Freunde, die in der Bundesrepublik Filme gemacht haben, die habe ich danach kennengelernt. Wir wussten voneinander, aber wir hatten nicht so sehr viel miteinander zu tun.

Scholl: Ein Lebensmotto von Ihnen lautet: "Wer weeß, wofür et jut is", ganz Berlinerisch, wer weiß, wofür es gut ist. War es, diese Teilung denn womöglich zu irgendetwas gut?

Kohlhaase: Aus meiner Sicht – ich will das nicht für andere beantworten – war es für etwas gut, weil ich war beteiligt an einem Denkversuch, an einem Versuch, die Zeit meiner Kindheit, die Nazizeit, das Leben meiner Eltern als Vorgeschichte meines eigenen Lebens mit einem sehr kritischen Blick zu sehen und mit dem Wunsch, man könnte zu den Erinnerungen und vielleicht auch zu bestimmten Veränderungen beitragen.

Ich habe mich sozusagen in dieser Position, die ich mir nicht ausgesucht habe, habe ich mich durchaus gut gefühlt und habe gedacht, die Filme, die ich mit anderen zusammen, das könnte Sinn machen, bis zu der Annahme, man könnte seine eigenen Fragen in Gesellschaft bringen mit diesen Filmen, ohne dass ... Filme sind nicht Politik und Filme ändern nicht die Welt, aber sie ändern manchmal vielleicht die Sicht auf die Welt. Das zumindest kann man versuchen.

Scholl: Erinnerungen an den 13. August 1961 und die Zeit danach von Wolfgang Kohlhaase, der Drehbuchautor und Schriftsteller war bei uns zu Gast. Herr Kohlhaase, herzlichen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch. Alles Gute!

Kohlhaase: Gerne, bitteschön!


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