Dramatischer Schlussakkord

Nicht nur seine großen Romane "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" brachten Lew Tolstoj höchste Wertschätzung ein, sondern auch sein spartanischer und an den eigenen ethisch-moralischen Maßgaben gemessener Lebensstil. 82-jährig starb Tolstoj auf einer dramatischen Flucht. Jay Parinis Montage-Roman kreist um die letztlich nicht restlos geklärten Motive des Schriftstellers, seinem Leben kurz vor Schluss eine derart jähe Wende zu geben.
Mit seinen großen Romanen "Krieg und Frieden", "Anna Karenina" und "Auferstehung", mit zahlreichen Erzählungen wie "Die Kosaken" berühmt geworden, konnte Lew Tolstoj seinen Ruf als Literat von Weltgeltung zu Lebzeiten genießen.

Mehr noch: Als Verfasser ethisch-politischer Essays war er zu einer moralischen Autorität ersten Ranges geworden, zu einer Messias-Gestalt, die eine Heerschar von "Jüngern" anzog und unter dem Stichwort "Tolstojanertum" beinahe religionsstiftende Dimensionen erreichte. Seine Popularität beschränkte sich dabei nicht auf literarische oder sozialreformerische Zirkel.

Die Ernsthaftigkeit seiner Versuche, auf seinem Gut Jasnaja Poljana ein spartanisches und an den eigenen ethisch-moralischen Maßgaben entsprechendes Leben zu führen, seine an die Bauernschaft gerichteten Anstrengungen, Bildung unters Volk zu bringen, hatten ihm in allen Schichten der Gesellschaft höchste Wertschätzung eingetragen.

Und doch endete dieses Leben mit einer Episode, die eine enorme innere Unruhe des greisen Grafen zum Ausdruck brachte. Begleitet lediglich von seinem Arzt Duschan Makowizkij, flüchtete Tolstoj von seinem Gut, entschlossen offenbar, sich in kaukasischer Abgeschiedenheit von aller Welt zurückzuziehen. Die Strapazen der winterlichen Reise indes überforderten die Kräfte des 82-Jährigen bald. Auf einer kleinen Eisenbahnstation starb Tolstoj wenige Tage nach seiner überstürzten Flucht.

Dieser dramatische Schlussakkord beendet auch Jay Parinis Montage-Roman "Tolstojs letztes Jahr". Natürlich kreist dieses Buch um die letztlich nicht restlos geklärten Motive des Schriftstellers, seinem Leben kurz vor Schluss eine derart jähe Wende zu geben. Parini entwirft dabei keine biografisch-fiktionale Nacherzählung, er lässt gleichsam das dafür notwendige Material selbst zu Wort kommen.

Er tut das, indem er fast ausschließlich Auszüge aus seinen wichtigsten Quellen zitatartig miteinander verknüpft: Die Briefe und Tagebücher Tolstojs, seiner Frau Sofja Andrejewna, die Erinnerungen der Kinder Tolstojs, aber ebenso die Memoiren seines letzten Sekretärs, seines Arztes und weiterer Personen aus dem näheren Umfeld des Schriftstellers formen den Text dieses Romans.

Es entsteht eine vielstimmige Rekonstruktion, die ein intimes Licht auf die Lebensatmosphäre und die inneren Verheerungen des Helden wirft. Der zentrale Konflikt zwischen Tolstoj und seiner Frau wird in scharfen Konturen sichtbar. Er, gequält von der Unzulänglichkeit seiner Bemühungen, den eigenen Idealen konsequent zu folgen - etwa durch den Verzicht auf Besitz, auf Eigentum -, sie, eher praktisch veranlagt, die diese Ideale im Grunde für Verstiegenheiten hält und mit aggressiver Fürsorglichkeit ihren Materialismus verteidigt.

Der Konflikt der Lebensauffassungen eskaliert zum wahren Psycho-Drama, denn beide bekunden beständig ihre Liebe zueinander. Dass dieser Konflikt nicht nur eine Paarbeziehung betrifft, sondern durch die öffentliche Figur Tolstoj vor den Augen eines ganzen "Hofstaats" abläuft und zudem im Kontext eines sozialen und philosophischen Ideengebäudes betrachtet werden muss, macht ihn zur großen Tragödie, die dieser Roman nachzeichnet.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Jay Parini: Tolstojs letztes Jahr
Roman, Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk,
Verlag C. H. Beck, München 2008,
357 Seiten, 19,90 Euro