Dr. Sex

Rezensiert von Jörg Magenau |
T.C. Boyle kennt keine Gnade. Buch für Buch räumt er auf mit den amerikanischen Mythen. Geduldig seziert er die Moral der bigotten Mittelschicht ebenso wie die Widersprüche der Protestbewegungen.
Sein großartiger Gesellschaftsroman "Amerika" handelte vom Elend mexikanischer Einwanderer im Kalifornien der Gegenwart. In "Ein Freund der Erde" erzählte vom vergeblichen Kampf eines fanatischen Öko-Terroristen in den 80er Jahren. In "Drop City" beschrieb er den Zerfall einer Hippie-Kolonie, setzte sich also mit den Ausläufern der 70er Jahre auseinander. Nun, mit dem neuen Roman "Dr. Sex" über den Sexualforscher Alfred Kinsey, ist er in den 50er Jahren angekommen. Angesichts der präsidentengestützten Renaissance des Puritanismus ist diese Bewegung zurück in die Vergangenheit alles andere als ein Zufall. In einer Gegenwart, in der es darum geht, überkommene Wertvorstellungen zu restaurieren, ist ein Autor in der Rückwärtsbewegung auf der Höhe der Zeit.

Boyles Roman setzt im Jahr 1938 ein, als Alfred C. Kinsey, bis dahin unauffälliger Biologe im Dienste der Gallwespen-Forschung, plötzlich Vorlesungen zur Ehevorbereitung gab und zu diesem Zweck männliche und weibliche Genitalien als Dias an die Wand projizierte. Im provinziellen Bloomington im Bundesstaat Indiana sorgte er damit für einen gehörigen Skandal. Kinsey war bald davon überzeugt, dass sich das menschliche Sexualverhalten ebenso streng empirisch erforschen lassen müsse wie das der Tiere. Um zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen, setzte er sich das Ziel, hunderttausend Amerikaner über ihr Sexualverhalten zu befragen. Er interviewte Prostituierte und Straftäter, Durchschnittsbürger und brave Hausfrauen. Als schließlich im Jahr 1948 der "Kinsey-Report" über "das sexuelle Verhalten des Mannes" erschien, erschütterte dieses Buch die Moralvorstellungen nachhaltig, denn es enthielt nicht nur die Daten durchschnittlicher Penisgrößen und -krümmungen, sondern verriet auch, wie oft amerikanische Männer ihre Frauen betrügen und wie verbreitet homosexuelle Kontakte sind. Ein Land, in dem Oralverkehr noch als Straftat galt und sexuelle Kontakte vor der Ehe verboten waren, tat sich schwer mit solchen Fakten.

Diese Forschergeschichte erzählt Boyle aus der Perspektive eines jungen Mitarbeiters des Dr. Kinsey, der an der Arbeit und am Aufbau des Instituts von Anfang an beteiligt ist - einer erfundenen Figur. Erst durch diesen Trick bekommt der Roman seine Spannung - aber auch einen etwas gleichförmigen, Höhen und Tiefen nivellierenden Tonfall. Dieser John Milk ist ein reichlich naiver Erzähler, zunächst eher ein bisschen verklemmt und seinem charismatischen Chef bald vollkommen hörig. Er hat seine Probleme mit den freizügigen sexuellen Vorstellungen Kinseys, der es für selbstverständlich hält, mit seinen Mitarbeitern auch ins Bett zu gehen. John Milk ist einer von tausend Männern, die vor der Kamera onanieren, weil Kinsey so die Frage klären will, ob der durchschnittliche Mann eher tröpfelt oder spritzt. Später gehören auch Gruppensex und Partnertausch zu den praktizierten Ritualen des Forscherteams. Milks Ehe wird dadurch auf eine harte Probe gestellt, denn seine Frau wagt, was er selbst nie wagen würde: Sie wehrt sich gegen Kinseys Totaldominanz und seine auch ihren Körper umfassenden Machtanspruch. John Milk in seiner Verzweiflung bringt eine Größe ins Spiel, die in Kinseys empirischen Untersuchungen überhaupt nicht vorkommt: die Liebe.

Kinsey wird damit zu einem klassischen Boyle-Helden, einer in sich widersprüchlichen Figur. Mit seiner Forschung trug er Unschätzbares zur Befreiung der Sexualvorstellungen bei, verhielt sich aber im eigenen Umfeld zugleich als despotischer Autokrat. In der Gestalt des naiven John Milk verwirren sich diese Eigenschaften des Befreiers und des Beherrschers zum unlösbaren Konflikt. Boyle zeigt das behutsam. Als Leser weiß man immer ein bisschen mehr als der Ich-Erzähler, der seinen Bericht am Tag nach Kinseys Tod auf Band spricht, um ihre Forschungsarbeit zu rechtfertigen. Wenig Raum bleibt dabei leider für die letzten Jahre Kinseys, der 1956, drei Jahre nachdem er seine Erkenntnisse über das sexuelle Verhalten der Frau veröffentlicht hatte, verbittert starb. Dieses Buch, das den Frauen ein eigenes Sexualleben attestierte, hat ihm die amerikanische Gesellschaft nicht verziehen. Konnte man fremdgehende Männer noch tolerieren, so war die Vorstellung aktiver und selbstbewusst lustempfindender Frauen ein Tabu, das gegen Kinsey verteidigt werden musste. Kinsey zerbrach daran. Boyle lässt diesen Abschnitt in Kinseys Biographie seltsam unterbelichtet, als hätte er schließlich einfach die Lust verloren. Auch der historische Hintergrund des 2. Weltkriegs wird nur sparsam angedeutet, wenn Kinsey sich darum bemüht, seinen Mitarbeiter vom Kriegsdienst freizustellen. John Milk möchte seinen Chef als strahlenden Helden in Erinnerung behalten. Dass ihm das unter der Hand nicht ganz gelingt, ist der aufregende Kunstgriff dieses Romans.

T.C. Boyle: Dr. Sex
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag, München 2005
472 Seiten, 24,90 Euro