Down-Syndrom
Lara Mars mit ihrer Tochter Tilda. © Pio Mars
„Tilda liebt ihr Leben“

Die kleine Tochter von Lara Mars hat Trisomie 21. Die Diagnose war ein Schock, doch die Mutter fand Trost im Austausch mit anderen betroffenen Eltern. Heute hilft sie selbst Familien mit behinderten Kindern.
Fünf Tage waren seit der Geburt ihrer Tochter vergangen. Fünf Tage hatte sie funktioniert, gehofft und gebangt. Nun steht eine Ärztin an ihrem und Tildas Klinikbett und teilt ihr beiläufig mit, dass der Bluttest auf Trisomie 21 positiv sei. „Das war der Moment, wo sich der Boden auftat“, sagt Lara Mars.
Kurz nach dem Befund steht Lara Mars vor dem Krankenhaus und weint wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ein Gedanke meldet sich immer wieder: „Hey, jetzt ist mein Leben vorbei.“ Trotz allem liebt sie ihre Tochter. Mars plagt sich mit Schuldgefühlen.
Doch weder in der Klinik noch vom Kinderarzt bekommt die frisch gebackene Mutter den Halt und Zuspruch, den sie sich erhofft. Sie habe sich damals gefühlt, als wäre sie die Erste und Einzige, die diese Gefühle jemals durchmachen musste, berichtet Mars.
Plötzlich fühlt sie sich nicht mehr allein
Was sie braucht, findet Mars schließlich im Internet: Sie vernetzt sich auf Social Media mit Müttern, die das Gleiche durchgemacht haben wie sie. Es hilft ihr sehr. Plötzlich fühlt sich die Marketing-Fachfrau nicht mehr allein.
Das Down-Syndrom, auch als Trisomie 21 bekannt, ist eine angeborene Veränderung im Erbgut. Bei den Betroffenen liegt das Chromosom 21 dreimal statt zweimal vor. In Deutschland leben nach Schätzungen 50.000 Menschen mit Trisomie 21. Jährlich kommen hierzulande circa 1.200 Kinder mit Down-Syndrom zur Welt. Mit der Genanomalie gehen geistige und körperliche Beeinträchtigungen einher. Die Lebenserwartung ist in der Regel vermindert. Benannt wurde die chromosomale Störung nach dem englischen Neurologen und Apotheker John Langdon Down (1828–1896), der sie 1866 erstmals wissenschaftlich fundiert beschrieb.
Aus der schlechten Erfahrung nach der Geburt erwächst eine Idee. Mars macht sich im Internet auf die Suche nach anderen Müttern von Kindern mit Trisomie 21, die bereit sind, Briefe an ihr früheres Ich zu schreiben – ihrem Ich unmittelbar nach der Diagnose.
Sechs Frauen machen mit, auch Mars wird einen Brief verfassen. Die Mütter, und später auch drei Väter, schildern in den Briefen ihre Gefühle, Ängste und Sorgen – und schreiben, dass sich die meisten davon nicht bewahrheitet haben. Die Briefe bringt Mars als Heft heraus, „Von Mutter zu Mutter“ lautet der Titel.
Das Heft wurde mittlerweile 27.000 Mal gedruckt, berichtet Mars. In ganz Deutschland liege es in Praxen, Kliniken und Perinatalzentren aus. Mars ist sicher: „Es hilft ganz, ganz vielen Leuten, diese Diagnose anzunehmen.“
Im Jahr 2022 veröffentlicht Mars ein Buch über ihr Leben mit Tilda, im selben Jahr gründet sie das Sozialunternehmen Lavanja. Die gemeinnützige GmbH bietet Seminare für Eltern behinderter Kinder und verschickt die Mütter-Hefte. Was als Ehrenamt begann, ist für Lara Mars zum Nebenjob geworden.
Inzwischen ist Tilda sieben Jahre alt. Es gehe ihr „super“, sagt ihre Mutter: „Tilda liebt ihr Leben“.
„Tilda hat mein Leben bereichert“
Die Tochter ist für Lara Mars vor allem eines: ein riesiges Glück. „Tilda hat mein Leben so sehr bereichert, das hätte ich mir niemals vorstellen können“, sagt sie. Vor allen Dingen habe ihre Tochter ihren Wertekompass neu geeicht und ihr vor Augen geführt, „wie unfassbar leistungsorientiert unsere Gesellschaft ist und wie schädlich das eigentlich für uns ist. Und wie viel es einem Menschen gibt, wenn man anfängt, Dinge zu tun, die einen tieferen Wert haben.“
Doch natürlich ist es nicht immer leicht für Eltern behinderter Kinder. Das weiß Mars aus eigener Erfahrung und durch die vielen Kontakte mit anderen betroffenen Müttern und Vätern. Eine enorme Herausforderung ist für die Eltern oft schon, die richtige medizinische Versorgung zu finden, weiß Mars.
„Wie finde ich einen Kinderneurologen, der eine Zerebralparese mit Botox behandelt?, wo wende ich mich hin zum Thema Sondenentwöhnung?“. Viele tausend Familien würden verzweifeln bei der Suche nach den passenden medizinischen Anlaufstellen. Ob sie sie fänden, sei oft pures Glück.
Ein Kind mit ganz normalen Bedürfnissen
Hinzu kommen überbordende Bürokratie und „systemische Fehler“, so Mars. „Das ist das, was uns Eltern wirklich schafft. Aber es sind meistens nicht unsere Kinder selbst.“ Nicht Tilda sei es, die das Leben manchmal schwierig mache. „Es sind die Umstände drumherum.“
Kinder – und erst recht Kinder mit Erkrankung oder Behinderung – hätten in unserer Gesellschaft keine Priorität, meint Tildas Mutter. Das habe sie oft feststellen müssen.
Mit dem Wort „Behinderung“ hat Lara Mars kein Problem und sie sieht auch keinen Grund, es zu vermeiden. Was sie dagegen gar nicht mag, ist, wenn jemand sagt, Tilda habe besondere Bedürfnisse.
„Die hat die gleichen Bedürfnisse wie jedes siebenjährige Kind. Sie möchte ganz vieles alleine machen. Sie möchte, dass auch die Mama mal draußen bleibt. Sie möchte viel zu viel Fernsehen gucken und am liebsten immer nur ihr Lieblingsessen essen.“ Bedürfnisse wie jedes andere Kind sie auch hat.
Demnächst kommt Tilda in die Schule. Das Mädchen ist schon sehr aufgeregt. Mars: „Ich höre praktisch ungefähr hundertmal am Tag ‚Ich Schule‘, was so viel heißt, wie, ‚Ich kann das jetzt ganz allein, weil, ich komme ja jetzt in die Schule‘.“
Und auch sie selbst sei aufgeregt, gesteht Lara Mars. „Der Weg zur Schule war kein einfacher. Aber ja, ich freue mich darauf, dass wir jetzt den nächsten Schritt gehen.“
tmk