Dostojewski als Spieler

Rezensiert von Carsten Hueck · 03.02.2006
Zu Lebzeiten war Leonid Zypkin der große Unbekannte der russischen Literatur. Er schrieb nach der Arbeit als Pathologe im Krankenhaus und starb 1982, ohne dass jemand davon Notiz genommen hätte. In "Ein Sommer in Baden-Baden" verschränkt er die Reiseerlebnisse Dostojewskis in Deutschland mit einer Reise nach Leningrad im 20. Jahrhundert und schafft so eine vielschichtige Hommage an die Schlüsselfigur der russischen Literatur.
Manchmal ist die Entstehungsgeschichte eines Buches selbst schon ein Roman. Und manchmal ist ein Roman nicht nur literarischer Gegenstand, sondern bezeugt in eigenartiger Klarheit das Leben seines Verfassers und dessen Zeit.

Leonid Zypkins "Ein Sommer in Baden-Baden" hat als eines jener besonderen Dokumente zu gelten, die Literatur, Literatur über Literatur, sowie Lebens- und Zeitgeschichte in einem sind.

Zypkin, 1926 als Sohn eines russisch-jüdischen Ärzteehepaars in Minsk geboren, überlebte den Zweiten Weltkrieg sowie Stalins politische und antisemitische Säuberungen. Er arbeitete und forschte als Pathologe im Krankenhaus. Nach Feierabend schrieb er Erzählungen und Novellen, in seinen letzten Lebensjahren den Roman "Ein Sommer in Baden-Baden".

Niemand erfuhr etwas davon. Zypkin war weder im offiziellen sowjetischen Literaturbetrieb, noch im literarischen Untergrund als Autor bekannt. 1982 starb er, 56-jährig. Wenige Tage zuvor waren in den USA, in einer russischen Emigrantenzeitung, erste Auszüge seines Romans erschienen. Er wurde auch ins Englische und Deutsche übersetzt - allerdings ohne nennenswerte Resonanz.

Der russische Leser konnte "Ein Sommer in Baden-Baden" erst vor drei Jahren zur Kenntnis nehmen. Fast ein Vierteljahrhundert hatte es gebraucht, Zypkins Werk dort zu veröffentlichen, wo es entstanden war.

Nun liegt der Roman in neuer deutscher Übersetzung vor, fast auf den Tag genau zum 125. Todestag von Fjodor Dostojewski, der Hauptfigur dieses oszillierenden Textes.

Zypkin verschränkt darin zwei Reiseerlebnisse: Zum einen Dostojewskis Reise mit seiner zweiten Frau Anna Grigorjewna nach Deutschland. Grundlage für die intime Schilderung der Reiseerlebnisse und des Zusammenlebens des Ehepaars Dostojewski ist Anna Grigorjewnas stenographisches Tagebuch. Den - durchaus autobiographischen - Erzähler schickt Zypkin ebenfalls auf eine Reise. Mit dem Zug fährt er in den 1970er Jahren von Moskau nach Leningrad. Seine Reiselektüre ist eben jenes transkribierte Tagebuch.

Unentwegt vermischt Zypkin diese beiden Realitäten. Über raffiniert konstruierte Zeitschleifen verbindet er reale Reiseeindrücke mit Figuren aus Dostojewskis Romanen. Kunstbetrachtungen gehen über in Porträts der Städte Moskau und St. Petersburg im 19. und 20. Jahrhundert. Reflexionen des Erzählers über Dostojewskis Antisemitismus wechseln ab mit dessen Halluzinationen.

In einem höchst virtuosen Balanceakt gelingt Zypkin eine fiktionale Nachbildung von Dostojewskis krisenhaftem Leben. Baden-Baden ist für Dostojewski Fluchtpunkt und Alptraum. Einen Sommer lang versucht er, sich im Kasino der Stadt durch das Glückspiel zu sanieren. Er überwirft sich mit Turgenjew, hat epileptische Anfälle. Streit und Versöhnung mit der Ehefrau wechseln ab mit traumatischen Erinnerungen an sein Sträflingsdasein oder größenwahnsinnigen Fantasien. Wer Nicolas Cage in "Leaving Las Vegas" gesehen hat, weiß, wie es Dostojewski in Baden-Baden ging.

Leonid Zypkin hat einen eigenwilligen, außergewöhnlich vielschichtigen Text geschaffen: eine Hommage an die Schlüsselfigur der russischen Kultur, eine psychologische Studie über Erniedrigte und Beleidigte, eine tiefgründige Reflexion über universelle Fremdenfeindlichkeit und jüdische Existenz in der Sowjetunion. Ein bescheidenes, nichtsdestotrotz kraftvolles Bezeugen menschlicher Existenz. Sprachlich bestechend, poetisch, assoziativ und stringent.

Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden
Mit einer Einführung von Susan Sontag.
Aus dem Russischen von Alfred Frank.
Berlin Verlag, 237 S., 22 €