Dubiose Mineralöle

Die skandalöse Ökobilanz von Papier-Recycling

Gepresste Altpapierblöcke lagern auf einem Recyclinghof in Bamberg.
Gepresste Altpapierblöcke lagern auf einem Recyclinghof in Bamberg. © picture alliance / dpa / David Ebener
Von Udo Pollmer · 12.12.2014
Pünktlich zu Weihnachten gibt es einen kleinen Lebensmittelskandal: Stiftung Warentest findet ungesunde Mineralöle in Pralinen. Doch über den eigentlichen Skandal dahinter schweigt Stiftung Warentest.
"Die Verführungskraft der Praline ist enorm", mahnt Stiftung Warentest - und kann selbst der Versuchung nicht widerstehen, der Leckerei kurz vor Weihnachten noch eins auszuwischen. Die Masche ist bekannt: Man nehme Stoffe, die als schädlich gelten und die zugleich unvermeidlich sind. An sich ein löbliches Tun, sofern es dazu beiträgt, Risiken zu mindern. Unsinnig wird es dann, wenn belanglose Rückstandsgehalte zur Gefahr hochstilisiert werden - und gleichzeitig gravierende Belastungen unter den Tisch fallen.
Stiftung Warentest hat also Mineralöle in Pralinen gefunden. Bereits vor zwei Jahren hatte die Verunreinigung in Adventskalendern großes Medienecho ausgelöst. Doch wie riskant sind diese Pralinen?
Mineralöle finden sich in vielen Lebensmitteln - und nicht nur in exotischen Schokoartikeln. Sie haben nichts mit Motoröl zu tun, sondern vor allem mit Tageszeitungen. Die fraglichen Mineralöle sind Bestandteile der Druckfarben. Beim Recycling von Altpapier werden sie gleichmäßig in der Ökopapiermasse verteilt. Die Öle gasen aus und wir atmen sie überall dort ein, wo Kartons oder Recyclingpapier herumliegen. Auf diesem Wege nehmen auch Lebensmittel die Schadstoffe aus der Luft auf.
Art der Umverpackung ist entscheidend
Stiftung Warentest beklagt, dass gesetzliche Grenzwerte für Mineralöle fehlen. Soweit Grenzwerte vorliegen, sind sie nicht verbindlich, weil sie nicht praktikabel sind. Die Rückstände hängen ja nicht vom Lebensmittel ab, sondern von der Art der Umverpackung und davon, was sonst noch an Kartons in den Regalen steht, dann von der Temperatur und von der Lagerdauer. Das Füllgut saugt die Mineralöle förmlich auf.
Die meisten Innenbeutel in den Lebensmittelpackungen wiederum bieten keinen Schutz. Die missliche Situation verdanken wir jenen Warentestern, die konsequent Produkte abwerten, die in schadstofffreien Kartons verpackt sind, nur weil es keine Öko-Kartons sind.
Stünde der Schutz des Verbrauchers im Mittelpunkt, dann hätte Stiftung Warentest statt der selten konsumierten Pralinen Müslipackungen untersucht, schließlich bekommen das viele Kinder allmorgendlich vorgesetzt. Oder noch besser Babymilchpulver: Die inoffiziellen Grenzwerte der Fachorganisationen werden da bis zum Zehnfachen überschritten. Inzwischen enthält das Organfett des Menschen bis zu einem Gramm Ökopapier-Siff pro Kilo. Wer glaubt, diese Rückstände kämen aus Adventskalendern oder Pralinenschachteln, der glaubt vermutlich auch an den Weihnachtsmann.
Dem Altpapierrecycling den Heiligenschein abnehmen
Nimmt man die Ökobilanzen für Recyclingpapier unter die Lupe, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Da wird für die Heiligsprechung natürlich die Belastung von Umwelt, Lebensmitteln und Mensch mit den Chemikalien aus dem Recycling unterschlagen; Es fehlt auch die Menge an Heizöl, die jetzt benötigt wird, um den Restmüll verbrennen zu können, weil das Papier fehlt. Vielfach wird in den Müllverbrennungsanlagen statt Papier wieder der brav getrennte Plastikabfall untergemischt.
Es ist an der Zeit, dem Altpapierrecycling den Heiligenschein abzunehmen. Papier enthält ja nicht nur dubiose Mineralöle, sondern eine Fülle von Stoffen, die ihm zugesetzt werden, um ihm besondere Eigenschaften zu verleihen - für Papier gibt's mehr Zuschlagstoffe als für Plastik.
Es ist unmöglich, sie allesamt analytisch zu erfassen. Da toxikologische Daten fehlen, wäre eine Flut letztlich sinnloser Tierversuche erforderlich, um eines fernen Tages Höchstmengen festlegen zu können, die ja doch nur von frischem Papier erfüllt werden können. Es gibt auf dieser Welt eh kein echtes Recyclingpapier - da durch jeden Zyklus die Produktqualität sinkt und die Schadstoffbelastung steigt. Es ist nur downgecycelt.
Holz, aus dem frisches Papier hergestellt wird, ist hingegen ein ständig nachwachsender Rohstoff. Darüber hinaus gibt es erfolgversprechende Verfahren, Holz auf biotechnologischem Wege - und damit weitgehend umweltneutral - zu Papier zu verarbeiten. Das erforderliche Wasser lässt sich dank moderner Membrantrennverfahren vollständig reinigen. Das ist echtes Recycling. Mahlzeit!
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