Dorf-Kosmos

"Lauter Ewigkeitsaugenblicke"

Besprochen von Rainer Moritz · 19.11.2013
Der diesjährige Gewinner des Schweizer Buchpreises, Jens Steiner, erzählt aus wechselnder Perspektive zwölf kleine Geschichten rund um eine Gasexplosion in einer Fabrik. Unaufdringlich und schön skizziert er das Dorfleben seiner Helden und präsentiert damit ein kunstvolles Geflecht von Schicksalen.
Ein Dorf irgendwo in der Schweiz. Es ist heiß; die Sommerferien stehen vor der Tür. In zwölf Kapiteln – "Runden“ genannt – entfaltet der 38-jährige Jens Steiner einen überschaubaren Kosmos, der samt und sonders von beschädigten, manchmal verzweifelten Menschen bevölkert ist.
Da ist der Korbflechter Freysinger, dem die Frau Marisa, sein "dahergelaufener Traum“, abhandengekommen ist. Da ist der Familienvater Edgar, der vor einer auseinanderfallenden Welt kapituliert und sich heimlich zum Weinen in den Geräteschuppen zurückzieht. Da sind drei Männer – Ricardo, Giorgio und Gustavo –, die ihre besten Jahre hinter sich haben und nun regelmäßig als "klandestiner Altherrenclub“ zusammenkommen.
Sie haben ganz unterschiedliche Viten, räsonieren über Epiktet und Antonio Gramsci und vertreiben sich die Zeit mit alkoholischen Getränken und Carambole, einem aus Indien stammenden Fingerbillard. Und da sind die drei pubertierenden Jungen Fred, Igor und Manu, die sich nachmittags unter Freysingers Kirschbaum treffen, die ereignislosen Sommerferien fürchten und mit ihren erwachten sexuellen Regungen ringen.
Helden, die keine sind
Jens Steiners zweiter Roman, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand und mit dem Schweizer Buchpreis 2013 ausgezeichnet wurde, ist ein eigentümliches Buch, das auf eine plane Handlung verzichtet und stattdessen ein Geflecht von Charakteren und Schicksalen kunstvoll präsentiert. Von Kapitel zu Kapitel wechselt die Erzählperspektive – ein Kunstgriff, der die Unverbundenheit und Hilflosigkeit der Helden, die keine sind, einfängt. Die Wege, die die Figuren – meist "stille Leute“ – gehen, sind miteinander verbunden, ohne dass Jens Steiner zu deutlich ausspräche, was sie zu Zerrissenen und aus der Bahn Geworfenen macht.
Allesamt suchen sie ein rettendes Ufer, die Jungen voll verzweifeltem Optimismus, die Alten mit leiser Resignation. Die überlieferten Sicherheiten, das vermeintliche "Sicherheitsnetz“ der Familie zum Beispiel, sind ohne Bestand. Zusammengehalten sind die vielen kleinen, in „Carambole“ ausgebreiteten Geschichten durch ein von mehreren Seiten beleuchtetes Unglück – die Gasexplosion in einer Fabrik –, das die Dörfler nachhaltig beschäftigt. „Die Geschichte der Welt setzt sich zusammen aus lauter Ewigkeitsaugenblicken“, heißt es einmal, und es ist diese lautlose – typisch schweizerische? – Stille, die diesen Roman von der ersten bis zur letzten Seite prägt.
"Was passiert mit uns allen?“, lautet eine der vielen Fragen, die sich die Menschen in diesem abgelegenen Dorf stellen, während sie gleichzeitig darauf hoffen, dass endlich etwas geschieht. Die Symbolik des Carambole-Spiels weiß Jens Steiner dabei gut, fast zu gut zu nutzen: „Mit einem kleinen, runden Stein schubst man andere kleine, runde Steine in ein Loch in der Ecke des Spielfeldes. Manchmal schubst man den falschen Stein an. Manchmal ist der falsche Stein der richtige.“ Fast meint man, dass das die Handlungsanweisung sei, nach der sich die Akteure dieses unaufdringlich-schönen Romans unwillentlich richten.

Besprochen von Rainer Moritz

Jens Steiner: Carambole. Ein Roman in zwölf Runden
Dörlemann Verlag, Zürich 2013
223 Seiten, 19,90 Euro