Doppelbödige Denk-Rätsel

11.06.2009
Der bekannte Lyriker und Essayist Hans Magnus Enzensberger gibt in seinem neuen Gedichtband "Rebus" schlitzohrige Denk-Rätsel auf. Auf diesem Wege wird die Realität in fünf thematischen Abschnitten doppelbödig gespiegelt.
Rebusse haben Konjunktur. Ein Rebus ist eine Art Bilderrätsel, das in spielerischer Denk-Form mit der Realität hantiert. Man muss um mehrere Ecken denken, um den Sinn des Rätsels in die richtigen Worte zu fassen. Indem der Lyriker, Romancier, Essayist und Kinderbuchautor Hans Magnus Enzensberger seine Sammlung von Gedichten unter diesen Titel stellt, fordert er zu einem spannungsreichen Spiel auf. In den Überschriften der fünf Abteilungen werden die Themenbereiche angedeutet: "Gleichgewichtsstörung", "Es gibt Probleme", "Schwere Koffer", "Erste Person Plural" und "Coda".

Enzensberger fragt ketzerisch und mit Hintersinn nach den verschwiegenen, unsichtbaren Zuständen menschlicher Existenz. Er spricht Tabus an und zweifelt an dem, was wir Erkenntnis oder Wissen nennen. Erweisen sich doch vor allem die Funktionen des menschlichen Körpers als reinstes Chemielabor. So führen bereits 100 Milligramm C12H18O dazu, dass die "intimen Habseligkeiten" wie Bewusstsein, freier Wille und Vernunft abhanden kommen.

Überhaupt kommt Enzensberger zu ganz erstaunlichen poetischen Erträgen. So wird im Gedicht "Unter der Hirnschale" das, was dort "tickt" als ein "Ich" registriert, das seine eigene Wirtschaft führt.

"Nicht immer macht mein Gehirn,/ was ich will. Missverständnisse,/ Kräche bleiben nicht aus./ Wenn es dunkel wird,/ versuche ich, es ganz einfach/ abzuschalten. Vergebens."

Während philosophisch betrachtet, eine "vollkommene Leere" von höchst spektakulärer Brisanz ist, sollte sie rein physisch besser vermieden werden.

"Die vollkommene Leere/ Ein erhabenes Ziel, gewiß,/ nur meine Lunge/ will nichts davon wissen."

Das lyrische Ich versucht sich angesichts der Tatsache, dass wir weniger im Griff haben, als wir meinen, in Gelassenheit zu üben. Doch es gelingt ihm nicht. Denn es denkt und dichtet unentwegt in seinem Kopf und zu viele Fragen drängen sich auf.

"Wie oft musste Plato sich schnäuzen, der heilige Thomas von Aquin/ seine Schuhe ausziehen,/ Einstein sich die Zähne putzen, Kafka das Licht ein- und ausschalten"

Schließlich fühlt sich das Ich in einen tragischen Widerspruch verstrickt: während der Körper sichtbar altert, scheint das Gehirn immer jünger zu werden. Das macht diese Gedichte zu einem Kraftpaket, in dem schlitzohrige und doppelbödige Sprach- also Denk-Rätsel zu entdecken sind. In diesem Paket, das von einem Rebellen verschnürt wurde, steckt reichlich Widerstandspotenzial.

Enzensberger führt mit eleganten Sprachgesten in Welten, die uns vertraut scheinen, aber durch den Filter der Poesie von Gewissheit und Selbstzufriedenheit befreit sind. Seine Gedichte bedeuten eine wohltuende Atempause, in der das Alltägliche und Selbstverständliche auf Distanz rückt. Denn "Gebenedeit/ sei die Nichtigkeit" und Ich ist sowieso ein "anderer".

Besprochen von Carola Wiemers

Hans Magnus Enzensberger: Rebus – Gedichte
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009
120 Seiten, 19,80 Euro