Doping im russischen Fußball

"Die Skandalorganisation FIFA kontrolliert sich selbst"

Gruppenbild der russischen Fußball-Nationalmannschaft vor der WM 2014
Daten belegen, dass die komplette russische Nationalmannschaft vor der WM 2014 im russischen Dopingprogramm gewesen sei, sagt Thomas Kistner. © dpa/ Grigoriy Sisoev
Thomas Kistner im Gespräch mit Dieter Kassel · 01.12.2017
Ein russischer Whistleblower liefert immer wieder Informationen über gedopte russische Fußballspieler. Der Weltfußballverband FIFA unternimmt dagegen bislang nichts - und das, obwohl die nächste WM in Russland stattfindet. Der Sportjournalist Thomas Kistner weiß, warum.
Dieter Kassel: Heute, an diesem Freitag, werden in Moskau, und zwar im Kreml, die Gegner für die Gruppenspiele der Vorrunde der kommenden Fußballweltmeisterschaft ausgelost, und das würde die FIFA natürlich wie üblich gern ungestört zelebrieren. Aber die Vorfreude auf die kommende WM wird getrübt von Dopingvorwürfen.
Konkrete Informationen zum Doping im russischen Fußball liefert ein russischer Whistleblower, der inzwischen in den USA lebt und der sich darüber wundert, dass ihn Journalisten befragen, die FIFA aber nicht. Und die Weltantidopingbehörde WADA hat auch schon Konkretes geliefert. Auch das scheint die FIFA nicht so sehr zu interessieren. Wir wollen darüber jetzt mit Thomas Kistner reden, Sportredakteur bei der "Süddeutschen Zeitung" und Autor des Buches "FIFA-Mafia". Herr Kistner, schönen guten Morgen!
Thomas Kistner: Schönen guten Morgen!
Kassel: Ihrer Meinung nach, wie groß ist denn das Ausmaß des Dopings in der russischen Fußballnationalmannschaft?
Kistner: Man muss die Messlatte anlegen, die der Bericht des Sonderermittlers Richard McLaren aufgezeigt hat, und demnach ist Doping endemisch verbreitet zumindest gewesen bis 2015 im russischen Sport. Was danach passiert ist, wissen wir gar nicht, weil es keine wirkliche Überwachung auch seither gegeben hat. Und das Ganze gilt natürlich auch für den Fußballbereich, und da haben wir natürlich Daten vorliegen, die zeigen, dass zumindest die komplette russische Nationalmannschaft vor der WM 2014 im Programm gewesen sein soll.

"Strategisch aufgestellt"

Kassel: Die neuen Informationen über das, was die WADA schon an Informationen geliefert hat, hinaus kommen von Grigorij Rodtschenko, das ist dieser Whistleblower, den ich erwähnt habe. Ist das Zufall, dass der besonders laut jetzt geredet hat in den letzten Tagen, kurz vor der Auslosung?
Kistner: Das Ganze schaut schon ein bisschen strategisch aufgestellt aus, aber die Kernfrage ist natürlich zunächst mal, wie wahrheitsgemäß sind diese Aussagen. Und da müssen wir davon ausgehen, dass hier wirklich jeder Satz stimmt, der in Richtung Russland losgelassen worden ist, und das aus zwei Gründen: Zum einen war Grigorij Rodtschenko eines der Masterminds hinter diesem Doping-Staatsplan, der da durchgeführt worden ist. Er war auch der Chef des Moskauer Antidopinglabors. Er war im direkten Austausch mit den Spitzen, bis hinauf zum Sportminister Mutko.
Und zum anderen ist Rodtschenko ja im Zeugenschutzprogramm in den USA. Er ist dort abgetaucht. Er muss um sein Leben fürchten. Und das heißt, mit den Amerikanern ist da nicht zu spaßen, das heißt, man muss wirklich alles auf den Tisch packen. Das hat er getan ganz offenkundig, und jetzt wird immer wieder nachgebessert, wenn man sieht, wenn Rodtschenko und die Leute, die ihn umgeben, sehen, dass die Organisationen des Sports nicht das umsetzen, was sie permanent dem Publikum versprechen, nämlich für Aufklärung zu sorgen, dann wird immer wieder was Neues nachgeschoben.

Kein Zugang für die Welt-Doping-Agentur

Kassel: Rodtschenko selbst hat ja auch schon gesagt, die FIFA hat mich noch nicht angerufen. Das ist das eine. Man kann die FIFA nicht zwingen, einen Whistleblower anzurufen. Aber Sie haben es ja auch schon beschrieben, es gab ja vorher schon Informationen von der Antidopingagentur WADA – kann die FIFA das auch ignorieren?
Kistner: Gewissermaßen kann sie das. Das ist das große Problem im Weltsport. Die FIFA ist so reich und so unabhängig von allen anderen Sportinstitutionen, auch reicher und unabhängiger als das Internationale Olympische Komitee im Übrigen, dass sie es sich eigentlich leisten kann, das alles zu tun. Sie kann sich dies nicht auf Dauer leisten, denn irgendwann wendet sich das Publikum sicherlich ab, aber auch die bisherigen Antidopingbemühungen der FIFA sind eigentlich Augenwischerei, das ist reiner Exorzismus. Das tut man so, weil die Öffentlichkeit mittlerweile weltweit, die Sportöffentlichkeit erwartet, dass zumindest mal ein bisschen getestet wird auf Doping.
Aber die WADA, die Welt-Anti-Doping-Agentur hat exklusiv bei den Veranstaltungen der FIFA, insbesondere bei der Fußballweltmeisterschaft gar keinen Zugang. Die sind nur Zaungast da. Also selbst die WADA weiß nicht, was da abläuft, und das heißt, dieser Skandalorganisation FIFA obliegt es ganz allein, sich selbst zu kontrollieren. Dass da nichts dabei rauskommt, das können wir uns gut vorstellen.

"Das wäre ein merkantiles Desaster"

Kassel: Andererseits, in welcher Lage ist die FIFA jetzt, wenn wir an Russland denken. Russland ist der Veranstalter der nächsten Fußballweltmeisterschaft, und wenn jetzt die FIFA tatsächlich alle 23 Spieler, die zum Kader dieser Saison gehören, in der nächsten WM sperren würde – ich meine, Russland aus seiner eigenen WM rauswerfen, das würde ja nicht nur die Stimmung in Russland verderben, damit würde sich die FIFA ja auch selber schaden.
Kistner: Ja, das wäre natürlich ein merkantiles Desaster, und es ließe sich auch politisch – auch politisch ist es gar nicht vorstellbar, wie sich so was dann wirklich machen ließe. Das wäre aber nach dem Reglement nicht unbedingt die Frage. Die Frage wäre, ob man dann nicht eben eine zweite Garnitur aus unbelasteten Spielern ins Feld schicken müsste. Eine intakte, eine saubere Sportorganisation müsste sich mit solchen Fragen natürlich auseinandersetzen.
Von der FIFA, die wir ja alle kennen, in der sich nichts geändert hat nur deshalb, weil Sepp Blatter durch Gianni Infantino ersetzt wurde, so was schlechterdings unvorstellbar. Es wird maximal, wenn wirklich ganz konkrete Dinge gegen einzelne Fußballer vorliegen, da zu Änderungen kommen. Da kommt dann nicht mal die FIFA umhin, aber im Großen und Ganzen werden die Russen das Team ins Feld schicken können, das sie sich heute schon vorstellen.

Russland wird eine Problemweltmeisterschaft werden

Kassel: Glauben Sie, Herr Kistner, nicht, dass die FIFA auf Dauer doch diese große Marke – es geht ja ums Geld am Ende – diese große Marke Fußballweltmeisterschaft wirklich doch beschädigt? Der Umgang mit den Dopingvorwürfen, dann zwei Veranstaltungsorte, Russland ja schon, aber danach Katar, die wirklich problematisch sind, eine Winter-WM – kann man nicht selbst so eine Marke kaputt kriegen?
Kistner: Das kann man, das ist das große Problem. Das ist ein riesiger Tanker, diese Fußballwelt. Wir dürfen nicht vergessen, Fußball hat, anders als alle anderen Sportarten, ja mittlerweile eine quasireligiöse Bedeutung für sehr viele Menschen, also das heißt, hiergegen vorzugehen und hier Änderungen zu schaffen, das ist noch viel schwieriger als beispielsweise im olympischen Sport. Da sehen wir ja schon, dass den Funktionären die Felle davonschwimmen. Ganz viele Menschen, insbesondere in der westlichen Welt, wo der olympische Sport tiefer verankert ist als sonst wo auf dem Planeten, haben sich schon abgewendet. Man will keine Spiele mehr. Und das sind die Dinge, die im Fußball schleichend auch eintreten werden.
Wir haben höchst unattraktive Spiele in den nächsten Jahren. Nächstes Jahr in Russland, das wird ganz sicher eine Problemweltmeisterschaft werden. Wir haben vier Jahre später Katar, wenn es denn dort stattfindet. Ich bin alles andere als sicher, dass die WM 2022 wirklich nach Katar geht, denn da steht so viel im Raum und da wird noch so viel passieren im Zuge der Ermittlungen zur Frage Korruption oder nicht, dass ich da wirklich ein dickes Fragezeichen machen würde. Das wäre vielleicht für die FIFA ein erster Befreiungsschlag, wenn Katar nicht käme, wenn man dann die Möglichkeit hätte, in die USA oder nach Australien zu gehen. Ansonsten wird das sicherlich bitter werden. Es werden sich immer mehr Menschen davon abwenden.
Und wir dürfen nicht vergessen, eine 48er-Weltmeisterschaft steht ab 2026 auch noch an, also die totale Verwässerung, und das interessiert dann wirklich niemanden mehr, wenn Panama gegen Honduras spielt, das wollen die Leute nicht sehen. Und die großen Gelder werden dann auch nicht mehr zu generieren sein.
Kassel: Thomas Kistner, Redakteur im Sportressort der "Süddeutschen Zeitung" und Autor des Buches "FIFA-Mafia" mit sehr unschönen Aussichten auf die allernächste, aber auch die darauffolgenden Fußballweltmeisterschaften. Herr Kistner, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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