Donna Leon über Venedig, Brunetti und das Danach

"Eine gespenstisch seltsame Situation"

12:25 Minuten
Donna Leon sitzt in einem dunklen Raum im Ledersessel und schaut zum das Licht im Fenster.
"Nichts ist offen, die Läden haben zu, es ist seltsam, so eine leere Stadt zu haben" - Donna Leon über Venedig. © laif / Opale / Leemage / Graham Jepson
Donna Leon im Gespräch mit Ute Welty · 26.05.2020
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Die Geschichten von Donna Leon sind untrennbar verbunden mit Venedig, Kommissar Brunetti, Wasser, Kanälen und Touristen. Doch durch die Corona-Pandemie bekommen die Touristen eine neue Bedeutung, und die Bestseller-Autorin muss einiges umschreiben.
Ute Welty: Donna Leon, was hören Sie aus Venedig, wie hat sich die Stadt verändert seit und durch Corona?
Donna Leon: Ich bin gerade von einer Lesereise zurückgekommen durch die USA, und ich bin jetzt in der Schweiz in Quarantäne, aber ich stehe in täglichem Kontakt mit Freunden und Bekannten in Venedig. Am Anfang haben sie gesagt: 'Das ist ganz großartig, es gibt keine Touristen, wir haben unsere Stadt zurück, es ist alles wunderschön, es ist sauber.' Aber der Nachteil: Nichts ist offen, die Läden haben zu, es ist auch seltsam, so eine leere Stadt zu haben, keine Leute auf der Straße. Ich hab Bilder gesehen von der Piazza San Marco. Ohne eine Person. Komplett leer. Das ist vielleicht für einen Tag schön, aber nach mehreren Wochen fragt man sich doch, was machen wir denn jetzt, was sollen wir denn tun. Es ist absolut klar und deutlich geworden, dass Venedig eine Stadt der Monokultur des Tourismus geworden ist. Es ist fast die einzige wirklich wichtige Einnahmequelle für die Stadt. Da stellt sich natürlich jetzt eine Sorge ein, die Sorge, dass man in eine Falle tappt, denn wenn die Touristen zurückkommen, dann kommt auch die Krankheit zurück. Das ist ein weiteres Dilemma. Jetzt ist eben die Frage: Den Tourismus, den gibt es nur mit den üblichen Konsequenzen.
Welty: Sie haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Sie den bisherigen Tourismus in Venedig für fatal halten, jetzt bleiben ja die Kreuzfahrtschiffe zum Beispiel tatsächlich weg – wie nachhaltig ist das?
Leon: Das weiß niemand, das ist wie bei einem Kartenspiel, wo der Joker das Virus ist. Wenn es zurückkommt, dann wird es wieder radikale Veränderungen geben, es wird wieder Quarantäne geben und so weiter, aber keiner kann das vorhersehen. Es ist wirklich eine gespenstisch seltsame Situation, denn Rom oder Mailand, die können auch ohne Touristen überleben, die haben andere Einnahmequellen, aber Venedig ist wirklich auf diesen Tourismus so sehr angewiesen.

Die Katastrophe im Buch und in der Lagune

Welty: Im neuen Buch muss sich Commissario Brunetti weniger mit Wein denn dann auch mit Wasser auseinandersetzen."Geheime Quellen", so heißt eben jenes neue Buch. Was hat Sie an diesem Thema interessiert?
Leon: Ich war jahrelang fasziniert von der paradoxen Wassersituation in Venedig. Es ist einerseits so, dass die Stadt sagt: Wasser ist allgemeines Gut, es gehört den Menschen, die dort leben, aber sie müssen für das Wasser bezahlen. Und sie zahlen Geld, das an private Unternehmen geht, und das sehe ich als eine gewisse Unstimmigkeit. Eigentlich ist das Wasser, das man aus dem Wasserhahn bekommt in Venedig, sehr gut, es hat eine gute Trinkqualität. Ich trinke es immer, aber die meisten Leute trinken tatsächlich Wasser aus Plastikflaschen. In meinem Buch weise ich auf die Situation von verschmutztem Wasser hin: Was passiert, wenn das Wasser verschmutzt wird? Was geht da ab? Dann gab es jetzt kürzlich dieses große Feuer in einer chemischen Fabrik in der Nähe, wo es eine Explosion gegeben hat, jede Menge schwarzer Rauch aufgestiegen ist, hundert Feuerwehrleute haben es gelöscht, das haben sie auch geschafft innerhalb eines Tages, aber am nächsten Tag schwammen Hunderte und Aberhunderte toter Fische in den Kanälen in der Nähe dort. Es hat sich gezeigt, dass wohl Chemikalien aus der Fabrik in die Kanäle geleitet worden sind und die dann auch in der Lagune angekommen sind. Da hab ich gedacht: 'Oh, mein Gott, da erfüllt sich wirklich der Inhalt meines Buches durch diese schreckliche Katastrophe, die ja wirklich tatsächlich jederzeit hätte passieren können und passiert ist.'
Welty: Abgesehen vom sicheren Leitungswasser, wie würden Sie das Verhältnis der Menschen in Venedig zu ihrer Lagune und zu ihren Kanälen beschreiben?
Leon: Sie lieben es, es ist wunderschön. Sie sind dort aufgewachsen – an der Lagune, in der Lagune und um die Lagune herum aufgewachsen, denn in sag ich, weil man in den 60ern, als ich da zum ersten Mal wirklich noch in den Kanälen schwimmen konnte, da war es noch so sauber. Seitdem hat sich die Wasserqualität natürlich immens verschlechtert, es ist Stück für Stück immer schlimmer geworden. Trotzdem verbringen die Leute noch viel Zeit am Wasser oder jetzt auf dem Wasser, die meisten Männer haben auch ein Ruderboot und rudern, und man verbringt wirklich viel Zeit auf der Lagune, und es ist unglaublich schön.

Lebensrettender Service ohne Bezahlung

Welty: An der Grenze zwischen Leben und Tod gehen Sie beziehungsweise Brunetti auch ins Hospiz. Das ist im Roman ein guter Ort mit einem engagierten und warmherzigen Team, aber auch einer, der mit mehr Geld mehr tun könnte. Deckt sich das mit Ihrer eigenen Erfahrung?
Leon: Ich kenne das Hospiz, weil zwei Freunde von mir dort waren, bevor sie gestorben sind, und ich war sehr beeindruckt von der guten Pflege, von der Palliativpflege, die die Menschen dort bekommen, und dem hervorragenden Personal, das auch emotional sehr gut auf diese Menschen eingestellt ist. Ich fand es sehr bewegend, wie bereitwillig und mit welcher Hingabe die Menschen dort ihren Job machen.
Ich denke aber natürlich, dass die gesamte medizinische Struktur in Italien mehr Geld braucht. Es heißt, es würde viel verschwendet und es würde auch viel geklaut – ich weiß nicht, was da dran ist. Mein Eindruck insgesamt ist, dass die Ärzte sehr gut sind, das medizinische Fachpersonal sehr gut ist und auch das System ein Gratisservice für 60 Millionen Leute plus Touristen, das ist toll. Ich war vor Jahren mal mit einem, glaube ich, deutschen Freund unterwegs, der Herzprobleme hatte und der dann dort zum Arzt gegangen ist und sofort EKG bekommen hat, diverse Tests, und man hat ihm am Ende gesagt: "Ja, okay, wir finden nichts, Sie können wieder gehen." Und er hat dann gedacht: 'Na gut, ich frage mal, was kostet denn das, wo kann ich Ihnen dann jetzt hier was überweisen?' Da hat man ihn nur angeschaut und gesagt: "Mein Herr, das ist ein zivilisiertes Land, das kostet nichts." Und das ist ein System, das lebensrettenden Service anbietet ohne Bezahlung, und ich finde, das ehrt das Land sehr.
Welty: Was haben Sie gedacht, als Sie die Bilder aus den italienischen Krankenhäusern gesehen haben während Corona und nicht zuletzt den Militärtransport mit Toten in Bergamo?
Leon: Interessanterweise habe ich wirklich heute Morgen darüber gesprochen, das hat mich wieder auf drastische Weise mit der Realität konfrontiert. Dieses Foto, wirklich dieses Foto von diesen Lastwagen, das hat mich einfach wieder auf die Füße gestellt. Das ist so schrecklich, das würde einen Stein zum Weinen bringen, diese Militärzüge, diese Militärfahrzeuge voller Toter, das bringt die Leute dann einfach weg. Die Verwandten sind dann einfach nicht mehr da, das ist herzzerreißend, das bricht einem das Herz, und das geht den Italienern natürlich genauso. Jetzt hab' ich gerade gehört, dass in dieser Stadt, in Bergamo, das Leben auf der Straße wieder losgeht, die sogenannte Movida, dass die Bewegung wieder da ist, dass die Leute wieder auf die Straße gehen, junge Leute draußen sitzen und trinken ohne Gesichtsmasken und so weiter. Das ruft mir natürlich wieder die Bilder dieser Transporte zurück vor Augen, und ich frage mich: Sehen diese jungen Leute denn das nicht, fällt ihnen das nicht ein, können Sie sich das nicht denken dazu? Ich sehe diese Bilder dauernd vor meinem inneren Auge.

Die Krankheit wird wir zu einem Soundtrack

Welty: Was wünschen Sie sich für Italien in und nach Corona-Zeiten?
Leon: Ich hoffe natürlich, dass ein Impfstoff gefunden wird, der funktioniert gegen das Virus, dass wir es irgendwie schaffen werden, in Richtung eines normalen Lebens zurückzukehren. Das ist jetzt ja die ganze Zeit so, als ob im Nebenzimmer ein Radio läuft, das die ganze Zeit "Covid, Covid, Covid" sagt, und das wird nur gelegentlich mal durch die eigene Konversation unterbrochen, aber es ist irgendwie permanent da. Ich denke, bis die Krankheit wirklich verschwindet, bleibt uns dieser Soundtrack leider erhalten. Wir werden wahrscheinlich sehr lange noch denken: 'Darf ich hier das machen, darf ich diesen Menschen die Hände schütteln, darf ich in den Fahrstuhl einsteigen oder in diesen Raum gehen?' Ich glaube, wir werden lange brauchen, bis wir das vergessen, wenn wir überhaupt dazu in der Lage sein werden.
Welty: Ermittelt Commissario Brunetti in seinem nächsten und dem dann 30. Fall noch unter Corona-Bedingungen?
Leon: Na ja, ich lüge ja, um zu überleben, das macht man ja als Autor. Man erzählt Lügen, und das gehört zum Geschäft. Was ich allerdings mache, ist, diese Lügen auf eine wahrhaftige Art und Weise zu erzählen. Also: Ich war nicht da, als diese Situation in Venedig stattfand, zu Zeiten von Corona war ich nicht in Italien und kann es deshalb auch nicht wirklich glaubwürdig beschreiben. Ich denke, dass man die Dinge dann durch eine Art Filter sieht, in einem Filter "so war es früher", wenn man sich dran erinnert an etwas. Ich arbeite ja schon an einem Buch für nächstes Jahr, das ich allerdings schon vor dem Virus geschrieben hatte. In diesem Text klagt Brunetti die ganze Zeit über die Touristen – die sind überall, sie nerven, sie laufen mir vor die Füße und so weiter. Aber das kann ich so jetzt nicht mehr schreiben, denn die Italiener denken so nicht mehr. Man kann es jetzt höchstens aus der Perspektive schreiben: Ach, ich erinnere mich noch daran, als mich die Touristen wirklich genervt hatten, als das wirklich noch ein Thema war, ich erinnere mich, wie es war, damals. Ich kann mir das jetzt so nicht ausdenken, wie es jetzt ist, und das so beschreiben. Das käme mir auch irgendwie unehrlich vor, und es wäre eine Art Missbrauch des Unglücks anderer, denke ich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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