"Domestizierung von Staatsgewalt"

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Andreas Müller · 26.10.2010
Zum 150. Geburtstag von Hugo Preuß, dem Autor der Weimarer Verfassung, würdigt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die "irre Leistung" des Staatsrechtlers. Sie sieht auch, dass aus den Schwächen der gescheiterten Demokratie von damals die richtigen "Lehren" für unser heutiges Grundgesetz gezogen wurden.
Andreas Müller: Hugo Preuß war nichts weniger als der Vater der Weimarer Verfassung und damit auch prägend für das Bonner Grundgesetz von 1949. Übermorgen jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag von Hugo Preuß, und aus diesem Anlass erinnert die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften heute mit einer Festveranstaltung an den großen Mann, dessen Namen heute wohl nur noch wenige kennen. Mit dabei ist auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die ich jetzt begrüße: Schönen guten Tag!

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Tag, Herr Müller!

Müller: Hugo Preuß – das sind jetzt mal ein paar Fakten – war Jurist, ein Berliner Kommunalpolitiker, ein eher unbedeutender Gelehrter, der aber in den Wirren der Revolution vom November 1918 von Friedrich Ebert zum Staatssekretär im Innenministerium berufen und mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beauftragt wird. Sein Name – ich habe es gesagt – ist heute fast vergessen. Wer war beziehungsweise ist Hugo Preuß für Sie?

Leutheusser-Schnarrenberger: Hugo Preuß war ein auch in der damaligen Zeit Liberaler. Er galt 1918 als eher links stehender Staatsrechtler, der aber anders als in der Reichsverfassung auf die Bedeutung eines Parlaments und der Beteiligung des Volkes setzte und auch ein anderes Staatsverständnis hatte als das rein obrigkeitsstaatliche, wie es in der Reichsverfassung verankert war.

Müller: Die Weimarer Verfassung war die Grundlage der ersten demokratischen Republik in Deutschland. Welchen historischen Fortschritt bedeutete sie?

Leutheusser-Schnarrenberger: Die Weimarer Reichsverfassung hat erstmals Grundrechte ausdrücklich vorgesehen, zwar nicht in der materiell-rechtlichen Gültigkeit wie heute unser Grundgesetz, sondern mit Vorbehalt einfacher Gesetze, die wiederum den Charakter der Grundrechte bestimmen konnten, aber das war natürlich schon eine ganz andere Ausrichtung der Verfassung. Es gab natürlich endlich ein Parlament, was entscheidet, und es gab damit auch ein Stück weit den Versuch der Domestizierung von Staatsgewalt, aber nicht lückenlos.

Parlamentarische Kontrolle, gerade der Diktaturkompetenz des Präsidenten, ist dann im Laufe der Weimarer Zeit leider nicht in der Form ausgeübt worden. Und es gab schon einen doch auch etwas zentral und dezentraler ausgerichteten Staatsaufbau, also auch etwas anders in ersten Schritten, als das früher der Fall war, also sehr wohl schon eine Verfassung mit ganz klar deutlich ausgerichteten demokratischen Elementen.

Müller: Preuß war ja 1918 Mitbegründer der liberalen DDP, der Deutschen Demokratischen Partei, eine liberale Partei. Inwiefern spiegeln sich liberale Traditionen in dieser neuen Verfassung wider?

Leutheusser-Schnarrenberger: Liberale Tradition ist bestimmt einmal der Blick auf den Bürger als Träger von Grundrechten, dass das erstmals auch dort so verankert war. Preuß war ja mehr immer im Blick auf damals die Paulskirchen-Verfassung, ein Staatsrechtler, der das auch einbringen wollte in die Weimarer Verfassung, anders als das andere mehr obrigkeitsorientierte Staatsrechtler gesehen haben. Wie gesagt, gerade Kompetenzen auch ausdrücklich zu benennen, wer sie hat, natürlich auch der Zentralstaat, aber nicht ausschließlich. Dass Preuß einen Staatsaufbau von unten nach oben sah, ist in meinen Augen etwas, was man mit ihm auch liberal verbindet. Und natürlich ausgeprägt für Pluralismus zu sein, für verschiedene Parteien. Er hatte ein positives Verständnis von verschiedenen politischen Parteien und war für religiöse und ethnische Pluralität.

Müller: Würden Sie sagen, dass die Person Preuß diese Verfassung sehr geprägt hat, denn er – das habe ich gelesen – galt als jemand, der sehr furchtlos war, den also Autoritäten nicht beeindruckten. Er hatte das entsprechende Elternhaus, eine jüdische Kaufmannsfamilie, also der ruhte in sich, den konnte nichts erschüttern. Ist das da wiederzufinden?

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, es ist darin wiederzufinden, dass er in kürzester Zeit ja einen Entwurf für die Weimarer Verfassung vorgelegt hat, da gehörte was dazu, in diesen Umbruchzeiten in so kurzer Zeit, er hat sie quasi ja überwiegend alleine geschrieben, natürlich ...

Müller: In drei Wochen.

Leutheusser-Schnarrenberger: In drei Wochen ... Er hatte einen unheimlichen Hintergrund, weil er ja als Staatsrechtler sich immer auch schon mit all diesen Fragen befasst hat. Aber das war natürlich eine irre Leistung, und es gab ja viele Streitpunkte bei der Weimarer Verfassung. Er hat sich auch nicht in allen Punkten durchgesetzt, aber doch in einigen. Also ich denke, er hat schon eine Handschrift dort hinterlassen.

Müller: Also eine der Schwächen – das hat man ihm später vorgeworfen, obgleich er sie eigentlich gar nicht drin hatte in seiner Verfassung, sie sind ihm später rausgestrichen worden, also er hatte einen viel stärkeren föderalistischen Ansatz, als das später dann in der Verfassung letztlich zu sehen war. Er wollte eine Aufteilung Preußens, weil Preußen viel zu schwergewichtig gewesen wäre in einem neuen Staatenbunde. Was hat dazu geführt, dass diese Verfassung und damit auch die Republik scheitern musste?

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich glaube, dass es nicht in erster Linie an der Verfassung lag, obwohl sie natürlich Gefahren auch beinhaltete für jemanden, der autoritär und diktatorisch vorgehen wollte, der hatte damit die Instrumente, das war ja dann der Artikel 48 der Weimarer Verfassung. Aber es lag auch schon daran, dass es nicht die tief verwurzelte Überzeugung von Demokratie bei vielen Menschen in der damaligen Zeit und auch bei den Abgeordneten gegeben hat.

Müller: Demokratie galt als undeutsch zum Beispiel.

Leutheusser-Schnarrenberger: Das war undeutsch, das war nicht deutsches Kulturgut. Es war alles sehr geprägt von der Reichsverfassung, von ich sag mal eigentlich so einer Scheinkonstitutionalisierung, die eines beinhaltete: den Alleinentscheidungs- und Omnipotenzanspruch des monarchischen Staates. Der Staat war über allem. Der musste absolut souverän sein, und der einzelne Bürger musste auch bereit sein, Opfer zu bringen. Und dieses Staatsverständnis, das wurzelte doch sehr über Parteien hinweg, tief in der Gesellschaft und auch bei den Parlamentariern, und von daher hat man eigentlich so richtig diese gelebte Demokratie nur bei wenigen und nachher ja auch nur bei einer Minderheit wirklich gehabt. Und ich glaube, das ist mit wirklich ein ganz wichtiger Grund für letztendlich mit das Scheitern der Weimarer Demokratie.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über Hugo Preuß, den Vater der Weimarer Verfassung. Diese Verfassung hat das Bonner Grundgesetz von 1949 sehr geprägt. Welche Lehren haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes aus Weimar gezogen, was hat man besser gemacht?

Leutheusser-Schnarrenberger: Also man hat wirklich einiges deutlich besser gemacht: Einmal, man hat die Grundrechte in einen Rang gestellt, dass der einfache Gesetzgeber sie nicht im Kern aushöhlen und einschränken kann. Wir haben die sogenannte Ewigkeitsgarantie, das heißt, auch eine 100-prozentige Mehrheit im Bundestag und Bundesrat, also bei den Repräsentanten des Volkes, können nicht an die Grundsäulen der Verfassung gehen, das heißt, sie können nicht die Unantastbarkeit der Menschenwürde des Einzelnen abschaffen, sie können aber auch nicht unsere Struktur der Demokratie und unseres Rechtsstaates mit dem Sozialstaatsprinzip abschaffen. Das ist ausdrücklich im Grundgesetz geregelt.

Man wollte da einfach eine absolute Mauer ziehen davor, dass mit demokratischen Mitteln wieder eine nicht demokratische Verfasstheit entstehen kann. Und natürlich ein ausgeprägter Föderalismus, nicht einen starken Zentralstaat zu haben, das war auch mit die Antwort auf Preußen und auf Weimar. Natürlich kein Instrument, was durch einseitige Entscheidungen eines Staatsoberhauptes Gesetzgebung des Parlamentes ersetzen kann und damit zu regieren ermöglicht ohne und außerhalb des Parlamentes. Also ich denke, diese Lehren, die sind gezogen worden, und sie sind ganz eindeutig nachlesbar in unserem Grundgesetz.

Müller: Es ist eine gute Verfassung, es ist auch eine populäre, anders als in Weimar, wo es doch ein gewisses Misstrauen gab, dagegen. Aber wir müssen schauen, es ist eine ganz Weile her, seitdem das entstanden ist, dieses Grundgesetz. Welche verfassungsrechtlichen Herausforderungen muss sie aushalten, unsere Verfassung, denn es wird immer mehr auf europäischer Ebene entschieden. Der liberale Rechtsstaat gerät immer häufiger und immer mehr unter Beschuss, Deutschland ist ein Einwanderungsland mit entsprechenden Problemen, es ist ganz anders als 1949. Was hält die noch aus, die Verfassung, so wie sie ist?

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, dass unsere Verfassung sehr wohl sehr viel aushält und auch für viele Herausforderungen jetzt schon auch mit Antworten beinhaltet. Denn die Religionsneutralität des Staates, aber sehr wohl die Freiheit, Religion im Rahmen unserer Werteordnung, sprich unserer Grundrechte ausüben zu können, ist der Maßstab, auch heute der aktuelle Maßstab für den Umgang von Religionen, natürlich gerade mit dem Islam und mit den Fragen, die durch Einwanderung nach Deutschland von Muslimen auch entstehen. Europäisch haben wir unsere Verfassung ja weiter entwickelt. Sie ist integrationsoffen gestaltet worden, aber wir müssen in der tatsächlichen Politik unheimlich aufpassen, dass die Errungenschaften des materiellen Rechtsstaates nicht durch Entscheidungen auf europäischer Ebene ausgehöhlt werden, gerade im Strafrecht, im Strafprozessrecht.

Und von daher begrüße ich ausdrücklich in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Vertrag von Lissabon, dass bei Fragen des Strafrechtes, die man dort als unmittelbar für den Bürger und für die Identität in unserem Land als entscheidend ansieht, eine Reißlinie entwickelt wurde, das heißt, da muss immer rückgekoppelt werden ans Parlament. Da können wir nicht einfach Weiterentwicklungen so mitmachen im normalen Prozess in Europa. Und ich glaube, das zeigt, dass wir eigentlich ganz gut gerüstet sind. Wir dürfen nur nicht an den Werten verzagen in unserer Verfassung, wir dürfen sie nicht infrage stellen, sondern müssen sie verteidigen und dürfen nicht mehr in eine innere Einstellung haben, Gott, im Zweifel machen wir halt was Verfassungswidriges, Bundesverfassungsgericht richtet es schon. Dieser Trägheit muss man entgegenwirken.

Müller: Der Trägheit entgegenwirken, das tat wohl auch Hugo Preuß, ein engagierter Bürger des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der vielleicht für manche auch heute noch Vorbild sein kann. Das war Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Mit ihr sprach ich eben über Hugo Preuß, den Vater der Weimarer Verfassung. Übermorgen jährt sich zum 150. Mal sein Geburtstag, heute wird er von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit einem Festakt geehrt, an dem auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger teilnehmen wird. Haben Sie vielen Dank!

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich bedanke mich recht herzlich, Herr Müller!