Dolce Vita ohne Filter
Deutschland erlebt einen unruhigen Frühling. Auf nichts ist mehr Verlass. Kurt Beck ist unbeliebter als Guido Westerwelle; die alten 68er sind, trotz Guido Knopps blühender Führerfilm-Serienwerkstatt, präsenter als die alten Nazis. Und die angebliche Klimakatastrophe der Erderwärmung beschert uns einen schier endlosen Winter.
Nun gerät noch eine eherne Regel ins Wanken: Wenn die Deutschen ein Gesetz verabschieden, das weiß die ganze Welt, dann halten sie sich auch daran. Gewiss, nicht alle und nicht immer, doch dafür gibt es ja Steuerfahndung, Politessen und Strafjustiz. Im Notfall Günther Jauch und die Super-Nanny.
Ansonsten aber gilt: An der roten Ampel heißt es "Halt!" – und draußen nur Kännchen. Was wir aber derzeit erleben, kommt einem Kulturbruch gleich. Wenn es eben nicht so falsch wäre, würde man sagen: italienische Verhältnisse...
Trotz der seit Monaten geltenden gesetzlichen Rauchverbote in Gaststätten aller Art wird weithin frech weitergequalmt. Selbst in Bayern, wo die Welt eigentlich noch in Ordnung ist, bricht das Chaos aus. In Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sind die so genannten "Einraum" - Kneipen, also die Mehrheit aller kleineren Kaschemmen, Bierhütten, Beisln, Bistros und Bars, vom Rauchverbot befreit worden.
Und in Berlin-Kreuzberg, bis heute legendäre Urzelle aller anarchistisch-autonomen Trink- und Rauchumtriebe, wartet man auf offizielle Genehmigungen sowieso nicht: Es wird fröhlich weitergeraucht, bis die Lungenflügel zusammenklumpen wie ölverschmierte Haubentaucher nach der Tankerkatastrophe. Hauptsache, das eigene Freiheitsverständnis bleibt unangetastet: Toleranz heißt, dass die anderen, in diesem Fall: die Nichtraucher, gefälligst Rücksicht nehmen sollen auf die Bedürfnisse der Nikotinsüchtigen. Hier trifft sich der Ernte-23-Spießer am verkeimten Zapfhahn ganz brüderlich mit dem Lederjackenjunkie, der seine Selbstgedrehte bis zur gelben Fingerkuppe absaugt, als wäre es die letzte Kippe vor dem Exitus.
Der Berliner Senat schließlich verhielt sich sehr kooperativ: Er hat zwar ein schönes Gesetz gemacht, seinen Vollzug aber bis zum Sommer ausgesetzt. So signalisiert der Staat ganz offen: Daran halten müsst Ihr Euch nicht! Das Ordnungsamt, das sonst den Abstand zwischen Tisch- und Bordsteinkante zentimetergenau misst und noch an Heiligabend auf Knöllchenjagd geht, drückt beide Augen, pardon: Nasenflügel zu.
Und so sieht es dann auch aus. Selbst in guten Restaurants wird schon mal ein Rauchertisch nach hinten gestellt, natürlich ohne jede räumliche Abgrenzung. Ab 23 Uhr dürfen dann auch die anderen wieder zur Zigarette greifen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Und tatsächlich ist richtig, was der Autor Hannes Stein in seinem demnächst erscheinenden "endgültigen" Ratgeber "Immer Recht haben!" schreibt: "Selbstverständlich steht es jedem frei, Selbstmord zu begehen; selbstverständlich auch dann, wenn er es auf umständliche Art tut; und selbstverständlich darf er dabei sehenden Auges eine besonders langwierige und qualvolle Todesart anvisieren."
Nur um eines hält der weise Ratgeber an: "Aber lasst bitte unsere schönen Caféhäuser in Frieden!"
Das ist das Stichwort. Demokratietheoretisch ist klar: Der gesellschaftliche Frieden entsteht nicht zuletzt durch Gesetzestreue, durch die Respektierung des kategorischen Imperativ.
Wenn aber Legislative und Exekutive ihren eigenen Gesetzen nicht trauen und keine Sanktionen verhängen, blühen Egoismus und Lobbyismus. Die Zigarettenindustrie und die ihr angeschlossenen Werbeagenturen reiben sich die Hände. Auch ohne den Marlboro-Mann, der längst an Lungenkrebs gestorben ist, können sie das Lied von Freiheit und Abenteuer wieder anstimmen, die Legende von der romantischen Eckkneipe im Ruhrpott, wo der Malocher nach der harten Schicht sein höchstes – und wahrscheinlich einziges – Lebensglück bei Pils und Fluppe findet.
Verrauchte Feingeister sprechen gern von einer schützenswerten sozialen Tradition, von Lebenskultur, vom Dolce Vita filterlos.
Wenn man allerdings die qualmenden Lebenskünstler außerhalb ihres natürlichen Lebensumfelds sieht – in zugigen Hauseingängen, durchsichtigen, an Guantanamo erinnernden Glaskäfigen auf Flughäfen, eingesperrt in kleinen markierten Karrees auf Bahnhöfen – dann sind Freiheit und Abenteuer ganz weit weg, Zwang und Sucht aber ganz nah.
Mit Verlaub: Dann doch lieber italienische Verhältnisse. Aber richtig. Denn in Bella Italia funktioniert das Rauchverbot problemlos, genauso wie im kalten Irland, wo abstinente Öko-Weicheier auch nicht gerade in der Mehrheit sind.
Man nimmt aber Rücksicht und ist gerade deshalb frei.
Ganz im Sinne des Gesetzes.
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für "Spiegel Online". Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z" und "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern".
Ansonsten aber gilt: An der roten Ampel heißt es "Halt!" – und draußen nur Kännchen. Was wir aber derzeit erleben, kommt einem Kulturbruch gleich. Wenn es eben nicht so falsch wäre, würde man sagen: italienische Verhältnisse...
Trotz der seit Monaten geltenden gesetzlichen Rauchverbote in Gaststätten aller Art wird weithin frech weitergequalmt. Selbst in Bayern, wo die Welt eigentlich noch in Ordnung ist, bricht das Chaos aus. In Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sind die so genannten "Einraum" - Kneipen, also die Mehrheit aller kleineren Kaschemmen, Bierhütten, Beisln, Bistros und Bars, vom Rauchverbot befreit worden.
Und in Berlin-Kreuzberg, bis heute legendäre Urzelle aller anarchistisch-autonomen Trink- und Rauchumtriebe, wartet man auf offizielle Genehmigungen sowieso nicht: Es wird fröhlich weitergeraucht, bis die Lungenflügel zusammenklumpen wie ölverschmierte Haubentaucher nach der Tankerkatastrophe. Hauptsache, das eigene Freiheitsverständnis bleibt unangetastet: Toleranz heißt, dass die anderen, in diesem Fall: die Nichtraucher, gefälligst Rücksicht nehmen sollen auf die Bedürfnisse der Nikotinsüchtigen. Hier trifft sich der Ernte-23-Spießer am verkeimten Zapfhahn ganz brüderlich mit dem Lederjackenjunkie, der seine Selbstgedrehte bis zur gelben Fingerkuppe absaugt, als wäre es die letzte Kippe vor dem Exitus.
Der Berliner Senat schließlich verhielt sich sehr kooperativ: Er hat zwar ein schönes Gesetz gemacht, seinen Vollzug aber bis zum Sommer ausgesetzt. So signalisiert der Staat ganz offen: Daran halten müsst Ihr Euch nicht! Das Ordnungsamt, das sonst den Abstand zwischen Tisch- und Bordsteinkante zentimetergenau misst und noch an Heiligabend auf Knöllchenjagd geht, drückt beide Augen, pardon: Nasenflügel zu.
Und so sieht es dann auch aus. Selbst in guten Restaurants wird schon mal ein Rauchertisch nach hinten gestellt, natürlich ohne jede räumliche Abgrenzung. Ab 23 Uhr dürfen dann auch die anderen wieder zur Zigarette greifen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Und tatsächlich ist richtig, was der Autor Hannes Stein in seinem demnächst erscheinenden "endgültigen" Ratgeber "Immer Recht haben!" schreibt: "Selbstverständlich steht es jedem frei, Selbstmord zu begehen; selbstverständlich auch dann, wenn er es auf umständliche Art tut; und selbstverständlich darf er dabei sehenden Auges eine besonders langwierige und qualvolle Todesart anvisieren."
Nur um eines hält der weise Ratgeber an: "Aber lasst bitte unsere schönen Caféhäuser in Frieden!"
Das ist das Stichwort. Demokratietheoretisch ist klar: Der gesellschaftliche Frieden entsteht nicht zuletzt durch Gesetzestreue, durch die Respektierung des kategorischen Imperativ.
Wenn aber Legislative und Exekutive ihren eigenen Gesetzen nicht trauen und keine Sanktionen verhängen, blühen Egoismus und Lobbyismus. Die Zigarettenindustrie und die ihr angeschlossenen Werbeagenturen reiben sich die Hände. Auch ohne den Marlboro-Mann, der längst an Lungenkrebs gestorben ist, können sie das Lied von Freiheit und Abenteuer wieder anstimmen, die Legende von der romantischen Eckkneipe im Ruhrpott, wo der Malocher nach der harten Schicht sein höchstes – und wahrscheinlich einziges – Lebensglück bei Pils und Fluppe findet.
Verrauchte Feingeister sprechen gern von einer schützenswerten sozialen Tradition, von Lebenskultur, vom Dolce Vita filterlos.
Wenn man allerdings die qualmenden Lebenskünstler außerhalb ihres natürlichen Lebensumfelds sieht – in zugigen Hauseingängen, durchsichtigen, an Guantanamo erinnernden Glaskäfigen auf Flughäfen, eingesperrt in kleinen markierten Karrees auf Bahnhöfen – dann sind Freiheit und Abenteuer ganz weit weg, Zwang und Sucht aber ganz nah.
Mit Verlaub: Dann doch lieber italienische Verhältnisse. Aber richtig. Denn in Bella Italia funktioniert das Rauchverbot problemlos, genauso wie im kalten Irland, wo abstinente Öko-Weicheier auch nicht gerade in der Mehrheit sind.
Man nimmt aber Rücksicht und ist gerade deshalb frei.
Ganz im Sinne des Gesetzes.
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für "Spiegel Online". Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z" und "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern".